In ihrem eigenen Leben scheint Agnes nur eine Nebenrolle zu spielen. In ihrem Kleid in matten Grüntönen verschmilzt sie fast mit der Tapete, wenn sie auf ihrer Geburtstagsparty die Runde macht und die Gäste bedient, von vielen kaum wahrgenommen – erst als sie die selbstgebackene Torte hineinträgt und die Kerzen ausbläst, wendet sich das allgemeine Interesse kurzzeitig doch einmal ihr als der eigentlichen Hauptperson des Abends zu. Für ihr Umfeld steht offensichtlich fest, dass sich die Frau von der US-Ostküste gern mit einem Leben zwischen Kindern, Küche und Kirche zufrieden gibt. Zuvorderst sind ihr Mann Louie und ihre zwei Söhne im Collegealter dieser Meinung; das zum Geburtstag geschenkte Handy wird Agnes folglich als Hilfe schmackhaft gemacht, mit dem sie leicht an „Bibelstellen und Kochrezepte“ gelangen könne.
Weit mehr jedoch spricht Agnes auf ein anderes Geschenk an: Ein 1000-Teile-Puzzle mit einer Karte der Erde als Motiv. Schon bald ist sie in ihren einsamen Stunden beständig dabei, in Windeseile die Puzzleteile zusammenzusetzen, bis ihr das als Herausforderung nicht mehr genügt. In einem Spezialgeschäft in New York entdeckt sie nicht nur neue Nahrung für ihre Leidenschaft, sondern auch die Suchanzeige eines Mannes für eine Partnerin zum gemeinsamen Puzzeln – für Agnes ein verlockendes Angebot, dem sie mit ihrem ungewohnten neuen Selbstbewusstsein nachgeht.
Die gelungene "Amerikanisierung"
In einem schwächeren Film wäre das Hobby der Protagonistin womöglich nur ein Vorwand gewesen, die eigentliche Handlung durch die Begegnung mit einem Unbekannten in Gang zu bringen. Marc Turtletaub, der vor allem als Produzent von Independent-Filmen wie „Little Miss Sunshine“ und „Loving“ bekannt ist, lässt bei seiner zweiten Regie-Arbeit „Puzzle“ dagegen keinen Zweifel daran, dass ihm die liebevoll entworfenen Figuren mindestens so wichtig sind wie die Herausforderung, den besonderen Zauber von Puzzles bildlich greifbar zu machen. Jedem, der sich je vom speziellen Wesen dieser Lege-Rätsel hat gefangen nehmen lassen, muss bei dem respektvollen Blick auf die einzelnen Stufen des Puzzle-Legens das Herz aufgehen: Den am Anfang stehenden Ehrgeiz, etliche kleine Elemente zu einer vollständigen Einheit zusammenzuführen, das Chaos zu entwirren und jedes Teil seinem vorbestimmten Platz zuzuführen, die Freude über das Wachsen der Bildwelt, das Glücksgefühl beim Einfügen des letzten Teiles, das ehrfürchtige Streichen über das vollendete Bild mit den Fingerspitzen.
Die Amerikanisierung des argentinischen Spielfilms „Rompecabezas“ von Natalia Smirnoff (2009) lässt allerdings auch jene Zuschauer nicht außen vor, die Puzzle-Enthusiasmus schwerer nachvollziehen können. In Kelly MacDonald besitzt „Puzzle“ eine bezwingende Idealbesetzung für die Rolle der lange zurückgedrängten Frau, die über dem Bewusstsein, ein besonderes Talent gefunden zu haben, langsam erblüht und sich ein ungewohntes Selbstwertgefühl erkämpft. MacDonalds Kunst, ohne großen mimischen Aufwand ein Maximum an widersprüchlichen Gefühlen in ihrem Gesicht aufscheinen zu lassen, verleiht Agnes’ Ausbruch eine außergewöhnliche Spannung. Bis zum Schluss bleibt in der Schwebe, wohin sie ihr Aufbegehren gegen die familiären Schranken letztlich führen wird.
Harmonie am Puzzle-Tisch
Vorhersehbarer ist, dass es wie fast immer in Filmen über sportliche oder spielerische Ausnahmetalente nicht beim einsamen Training im stillen Kämmerlein bleibt. Als Bewährungsprobe etabliert der Film die „Nationale Puzzle-Meisterschaft“, auf die sich Agnes mit ihrem über die Anzeige gefundenen Puzzlepartner Robert gemeinsam vorbereiten muss – wobei Zweifel an ihrem Favoritenstatus für den Doppelwettbewerb rasch ausgeräumt sind, da die zwei am Puzzletisch unmittelbar harmonieren. Als Problemlagen haben Turtletaub und die Drehbuchautoren Oren Moverman und Polly Mann dagegen die knappe Zeit bis zum Turnier – wenig mehr als ein Monat – und insbesondere die gegensätzlichen Temperamente und Gefühlslagen der beiden Beteiligten angelegt. Robert erweist sich als Erfinder, der durch ein erfolgreiches Patent finanzieller Sorgen enthoben ist, aber auch als selbstbezogener Zyniker, dessen Interesse abgesehen von dem Puzzle-Wettbewerb vornehmlich dem Konsum von Katastrophenmeldungen gilt. Agnes reibt sich mit ihrem Gottvertrauen zwangsläufig an ihm, dazu kommen die Schuldgefühle, da sie ihre Familie über die Ausflüge anlügt, die sie nun zweimal wöchentlich unternimmt.
Die Dynamik zwischen Robert und Agnes führt zum Wechselspiel zwischen immer deutlicherer Anziehung und Rückzugsmomenten, bei dem als Gegenüber von Kelly MacDonald auch Roberts Darsteller Irrfan Khan zwischen Melancholie und Vitalität eine widersprüchliche Figur entfaltet. Die einfache Lösung, ihn zum Retter der unzufriedenen Hausfrau Agnes zu machen, versagt sich der Film, stattdessen offenbaren sich zunehmend auch die anderen Männer um Agnes als gebrochene, unerwartet verletzliche Charaktere. Während ihr hünenhafter Gatte Louie zunächst das Klischee eines reaktionären, groben Klotzes zu erfüllen scheint, für den das eigenständigere Auftreten seiner Frau ein rotes Tuch ist, enthüllt sich in den immer häufigeren Konfrontationen mit Agnes die Tragik seiner statischen Weltansichten, durch die er die Frau, die er liebt, verlieren könnte.
In feiner Zurückhaltung und im Kontrast von gedämpften und warmen Farben erzählt der Film so von sich überschneidenden Reifeprozessen, bei denen die weibliche Hauptfigur allerdings das letzte Wort hat: Ihrer Leidenschaft entsprechend umfasst Agnes immer klarer die Teile ihres Lebens, aus denen sie nun zum ersten Mal ein sinnvolles Bild zusammensetzen kann.