„Wildlife“ schildert aus Sicht eines Jugendlichen das Scheitern der Ehe seiner Eltern in den USA der 1960er-Jahre. Bevor man über den Film redet und ihn betrachtet, sollte man sich vor Augen führen, dass „damals“, also vor 1968, eine andere Zeit herrschte. Die westliche Gesellschaft war verklemmter (oder gehemmter); das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, so innig sie sich auch zugetan waren, distanzierter. Erziehung zielte weniger auf die individuelle Entwicklung des Kindes als auf dessen Ausbildung zum tüchtigen Erwachsenen und (Staats-)Bürger.
Das Leben, vor allem die Kommunikation, verlief langsamer – man könnte auch sagen: bedächtiger. Es gab kein Internet, keine Handys, keine Computer. Motorfahrzeuge, Flieger und Eisenbahnen kamen deutlich langsamer als heute voran; eine Strecke von 50 Kilometern, die in der Gegenwart keine Distanz mehr zu sein scheint, war damals ein weiter Weg.
Dessen muss man sich bewusst sein, weil „Wildlife“, der auf dem 1990 erschienen gleichnamigen Roman von Richard Ford beruht, über weite Strecken als intimes Kammerspiel funktioniert, das sich tief in diese Zeit einschreibt. Nicht nur in Ausstattung, Design und seiner – trotz Ich-Perspektive – distanzierten Inszenierung, sondern vor allem durch das bedächtige Erzähltempo.
Eine unstatthafte Intimität
Der Protagonist Joe Brinson ist 14 Jahre alt (in der Vorlage: 16 Jahre) und hat viel Zeit: um zu beobachten und nachzudenken, zu warten und abzuwarten. Etwa auf die Mutter, die ihn zu einem Treffen bei ihrem Liebhaber mitgenommen hat und, nachdem sie zur Rückfahrt bereits ins Auto gestiegen war, nochmals im Haus ihres Lovers verschwindet. Minutenlang sitzt Joe dann allein im Auto und wartet. Durchs Fenster beobachtet er einen Kuss: eine unstatthafte Intimität zwischen seiner Mutter und einem Mann, der nicht sein Vater ist.
„Wildlife“ ist in vielem eine unfreiwillige Peeping-Tom-Story; die Geschichte eines Kindes, das ohnmächtig mitansehen muss, wie seine Mutter die Beziehung zu seinem Vater aufkündigt, indem sie während dessen Abwesenheit in die Arme eines anderen – für den Beobachter fremden – Mannes flüchtet.
Dabei beginnt alles ganz idyllisch. Mit dem Umzug der Brinsons – Vater Jerry (Jake Gyllenhaal), Mutter Jeannette (Carey Mulligan) und Joe (Ed Oxenbould) – nach Great Falls, Montana. Sie haben ein kleines Einfamilienhaus gemietet, der Vater hat auf dem Golfplatz einen Job als Gärtner gefunden. Sein Lohn sollte reichen, damit sich Jeannette ausschließlich um den Haushalt und Joe kümmern kann.
Doch Jerry, etwas weniger deutlich gezeichnet als Jeannette und Joe, ist ein bisschen übereifrig, ein bisschen labil, vielleicht auch ein bisschen zu indiskret; so ganz genau erfährt man dies als Zuschauer und Joe als Ich-Erzähler nicht. Doch nach wenigen Wochen verliert Jerry seinen Job und rasselt in ein Tief. Seufzend begibt sich Jeannette auf Arbeitssuche. Mangels anderer Optionen nimmt sie im lokalen Schwimmbad eine Stelle als Schwimmlehrerin an.
Hoch oben in den Berghängen
Joe lebt sich derweil in der neuen Heimat ein. Er erfährt in der Schule von den alljährlich im Herbst in der Umgebung tobenden Waldbränden, welche die Bewohner fürchten, weil das Feuer unberechenbar ist und der Kleinstadt bisweilen bedrohlich nahekommt. Die Feuerwehr sucht deswegen jedes Jahr Unentwegte, welche diese Feuer hoch oben in den Berghängen unter Kontrolle halten, bis der Schneefall sie beendet. Es ist eine gute Gelegenheit, Gutes zu tun und vielleicht auch zum Lokalhelden zu werden. Vater Jerry greift zu. Er lässt Jeannette und Joe zurück, ohne angeben zu können, wann er wiederkommt.
Jeannette nimmt es ihm übel. Sie hat als Schwimmlehrerin vor einer Weile die Bekanntschaft eines kriegsversehrten, aber begüterten Mannes (Bill Camp) gemacht; sobald Jerry weg ist, beginnt sie sich auf Warren einzulassen.
„In the fall of 1960, when I was sixteen and my father was for a time not working, my mother met a man named Warren Miller and fell in love with him“, heißt es im Roman. Im Regiedebüt des bislang als Schauspieler bekannten Paul Dano geht es dabei vor allem um die Frage des „Warum“. Eine Erklärung, wieso eine Mutter die in den Augen des Heranwachsenden gut funktionierende Familie (mutwillig) zerstört, wäre für Joe eine Erlösung. Doch die subtile Schilderung einer kindlichen Ohnmacht gibt darauf wohlweislich keine Antwort, was den Film zeitweise so bedrückend wie beeindruckend macht.
Dano erzählt ausnehmend bedächtig und fast schon irritierend nüchtern vom Zerfall einer Kleinfamilie im Mittleren Westen. Wo man aus heutiger Sicht die Erwachsenen instinktiv anhalten würde, ihr Handeln aus Rücksicht auf den Jungen zu überdenken, bleibt die Inszenierung indifferent beziehungsweise neutral. Dano weist weder Jerry noch Jeannette und schon gar nicht Warren eine Schuldigkeit zu, sondern konzentriert sich auf das Dilemma, in dem Joe zwischen seinen Eltern hin- und hergerissen wird.
Eine arrangierte Erinnerung
Richard Ford soll Dano geraten haben, sich bei der Adaption nicht zu sehr an die Vorlage zu halten. Dano, der das Drehbuch zusammen mit seiner Lebenspartnerin Zoe Kazan verfasst hat, nahm sich das zu Herzen und schuf aus der Vorlage etwas komplett Eigenes. Wenn zum Schluss Jeannette, als sie ihren Mann und Sohn schon Monate verlassen hat, für ein Wochenende bei ihnen vorbeischaut, packt Joe die Gelegenheit beim Schopf und schießt von sich und seinen Eltern ein Foto. Das zeigt ohne Worte, dass Joe begriffen hat, was seine Familie für ihn ist: eine – schön arrangierte – Erinnerung.