Dass es Begegnungen gibt, die einen Menschen „umhauen“, nimmt Regisseur Anatol Schuster ganz wörtlich. In seinem Hochschulabschlussfilm „Luft“ läuft die 17-jährige Manja wie hypnotisiert durch die Welt, seitdem sie im Wald von einer jungen Frau umgerannt wurde. Sie will diese kampflustige Person unbedingt kennenlernen, die ihr durch die Wucht des Aufpralls die Brille vom Kopf riss – und einen Kuss auf den Mund drückte.
Der bezaubernde, geistreiche Debütfilm besticht vor allem durch seine durchdachte Komposition. Der Filmemacher rollt das Genre des Adoleszenzdramas einmal von der anderen Seite auf und schickt eine junge Frau nicht auf die Suche nach sich selbst. Denn Manja weiß, wer sie ist und was sie sich wünscht; die Schauspielerin Paula Hüttisch bringt Manjas Charakters wunderbar zum Ausdruck.
Manja schwebt über den Dingen
Manja lebt in einem Hochhaus, zusammen mit Großmutter, Mutter und Schwester. Wie der Titel andeutet, muss ihr Luft als Element zugeordnet werden. Ihre Großmutter sieht in der Enkelin nicht von ungefähr einen Engel. Die feinnervige junge Frau mit reinem Herzen wirkt ein wenig entrückt; sie schwebt über den Dingen, bewegt sich meist lächelnd und leicht durch alles hindurch. Bis sie die Inszenierung auf die Spur jener anderen setzt, auf die Spur Louks, wodurch die zu sich selbst findet. Manja hingegen erfährt, was es bedeutet, einen anderen Menschen zu lieben.
Um zu erkunden, was es mit Louk auf sich hat, nimmt sich der Film fast 45 Minuten Zeit. Manja beobachtet die junge Frau und sammelt Informationen. Stück für Stück setzt sich Louks Bild zusammen, bis Manja erfährt, dass die rebellische junge Frau nicht über den Selbstmord ihrer Mutter hinwegkommt und ihr am liebsten nachsterben würde. Louks Credo, keine Angst zu haben, keine Spuren zu hinterlassen und nicht zu lügen, da nur Männer etwas hinterlassen wollen, weil sie etwas beweisen müssen, bekommt so einen drohenden Unterton.
Aber der Film führt vor, dass solche Wünsche nicht nur unproduktiv sind, sondern obendrein einen Trugschluss enthalten. Denn Louk hinterlässt ständig Spuren. Wenn Manja aus dem Fenster des Klassenzimmers sieht, steht Louks Motorroller unten auf dem Hof. Und wenn Louk eine ihrer politischen Aktionen durchführt, bleiben am Tatort Schmauchspuren zurück, quiekende Schweine im Zimmer des Schuldirektors oder eben, wie bei ihrer ersten Begegnung, jene Mütze, die Manja seitdem trägt. Es sind diese materiellen Dinge, die es Manja – und nicht nur ihr allein – überhaupt erst möglich machen, über Louk Informationen zu sammeln, ihr näher zu kommen und die den Wunsch auslösen: ein Schutzengel zu sein.
Spuren, Zeichen, Sehnsüchte
Spuren sind der Ausgangspunkt, um eine Beziehung herzustellen. Sie sind aber auch jene Elemente, welche die Narration des Films vorantreiben, der in der ersten Hälfte ein reines Spurenlesen ist. Darum buchstabiert der Film das Geschehen auch nicht von A bis Z, sondern lässt Raum für eigene Gedanken, Vermutungen und Schlüsse, wofür er zumeist poetische Bilder findet.
Spuren sind aber immer auch Zeichen der Abwesenheit, die Louk im Falle ihrer toten Mutter äußerst schmerzlich erfährt. Wie lässt sich ein solcher Verlust bewältigen? Wie kann man in einer solchen Situation Trost spenden? Der Regisseur weist dafür der Filmmusik eine zentrale Rolle zu; es gibt die Akkordeon spielende Schwester und ein Duo, das Kostproben seines Sprechgesangs vorträgt. Durch ein Lied könne sie ihre Mutter in Erinnerung rufen und sich mit ihr verbinden, rät Manja der Freundin. Eine wiederkehrende Melodie ruft auch für Manja die Präsenz der Freundin hervor, wenn Louk abwesend ist.
Spuren und damit das Deuten des Anderen bedingen aber auch Momente der Verunsicherung: Annahmen können sich als falsch erweisen; ein Nachbar, der gerade eine psychische Krise überwunden zu haben schien, nimmt sich das Leben. Für Manja ist es ein Schock, als Louk ihr einen Korb gibt und ihre Avancen nicht erwidert. In einer großartigen Montage macht der Film begreiflich, dass die Protagonistin erst durch die eigene seelische Erschütterung versteht, warum sie Louk ihren Schmerz nicht abnehmen kann. Das erst öffnet einen Weg für eine gemeinsame Reise.