Sie gehört zum folkloristischen Inventar der amerikanischen Trivialkultur: Lizzie Borden. Es genügt die Erwähnung einer Axt, schon denkt man an die mutmaßliche Doppelmörderin, die anno 1892 im kleinen Ort Fall River in Massachusetts Stiefmutter und Vater in einem blutigen Massaker getötet haben soll. Es gibt Opern, Krimigeschichten und einen Kinderreim, die von ihrer Tat erzählen; in zahlreichen Fernsehserien hielt die Axtmörderin zumindest episodisch Einzug, zuletzt in der Serie „Lizzie Borden – The Chronicles"; und auch diverse Horrorfilme, z.B. "The Axe Is Back - Die Rache der Lizzie Borden", zitieren sie herbei. Seinerzeit blieb der Fall ungeklärt, Lizzie Borden wurde freigesprochen, obwohl sie die Hauptverdächtige war. Wie es in den Quellen heißt, traute man einer Frau eine derart grausame Tat nicht zu.
Direkt auf DVD erscheint nun der in Sundance uraufgeführte Psychothriller mit dem deutschen Titel „Lizzie Borden - Mord aus Verzweiflung“ (im Original: „Lizzie – The Legend of Lizzie Borden“), der zweite Langfilm des Amerikaners Craig Macneill. Seine stilsichere Version des Mythos könnte ihm zu einigem Ruhm verhelfen: In unaufgeregter Tonlage adaptiert er den Stoff erstmals fürs Arthouse, während noch David Dunns B-Movie „Lizzie Borden“ 2012 effekthascherisch auf eher auf „Scream“ setzte.
Chloë Sevigny und Kristen Stewart Stewart in einem Pas de deux, wie man ihn seit Chabrols "Biester" nicht mehr gesehen hat
Außerdem konnte Macneill zwei profilierte US-Schauspielerinnen für die Rollen der Lizzie Borden und eines Dienstmädchens namens Bridget, der zweiten Hauptfigur, gewinnen: die extravagante Chloë Sevigny, Schauspielerin bei Regisseuren wie Whit Stillman und Alex Ross Perry, die den Film auch mitproduziert hat, und Kristen Stewart, die bei Kelly Reichardt ("Certain Women") beeindruckte und zuletzt bei Olivier Assayas spielte. Sevigny und Stewart vollbringen in „Lizzie“ einen schauspielerischen Pas de deux, wie man ihn seit Claude Chabrols „Biester“ (1995) nicht mehr gesehen hat, wo Isabelle Huppert und Sandrine Bonnaire das Bürgertum hinrichteten.
Als mörderisches Paar verbünden sich auch Lizzie und Bridget gegen die repressive Stimmung im bürgerlichen Haushalt. Um die Gedanken und Horizonte zu öffnen, verführt die Tochter des Hauses die Magd zunächst zum Lesen. In intim-zärtlichen Gesten, die vom Einkleiden ganz natürlich in flüchtige Berührungen übergehen und zur lesbischen Affäre werden, wird der Gesinnungspakt auch körperlich besiegelt. Das stille Leiden der beiden Frauen wird ansonsten auffällig über die Blicke inszeniert. Sevigny als Lizzie sieht zunächst resigniert ins Leere, erst als sie die Augen aufrichtet, bahnt sich Rebellion an; Stewarts Blick unter zitternden Lidern ist der der unterdrückten Arbeiterklasse. Das intime Bündnis stärkt die beiden gegen den mit Grausamkeit über seine Lieben herrschenden Vater (Jamey Sheridan). „Seine“ Frauen werden von ihm rücksichtslos unterjocht: Die beiden erwachsenen, ledig gebliebenen Töchter müssen um ihr Erbe bangen und dürfen das Haus nicht verlassen, am Dienstmädchen vergeht er sich, und seine zweite Ehefrau (Fiona Shaw) hat ohnehin nichts zu lachen.
Class“ und „Gender“ sind die Fixpunkte der Macneill’schen „Lizzie Borden“-Interpretation
Hier akzentuiert sich auch der gesellschaftliche Wandel Ende des 19. Jahrhunderts, als mit der Festigung der bürgerlichen Gesellschaft der private Raum vom Erwerbsraum getrennt wurde und es zu einer ungleichen Neuordnung der Geschlechterverhältnisse kam – „Class“ und „Gender“ sind die Fixpunkte der Macneill’schen „Lizzie Borden“-Interpretation. Die Bauern der Umgebung prellte der alte Borden um ihr Land, so ist er zu Reichtum gelangt, welchen er aber als Kleingeist versteckt – das gesamte Haus ist auch zwanzig Jahre nach der Erfindung des Kunstlichts noch immer von Kerzen beleuchtet, was Lizzie anti-aufklärerisch deutet: „Vater glaubt nicht ans Licht.“
Die kontrastreichen orangefarbenen Bilder werden immer wieder vom Schwarz verschluckt, zeichnen das Geschehen zugleich trügerisch weich. Macneill übersetzt die häusliche Unterdrückung in eine Stimmung höchster Anspannung. Knarzende Dielen, aufgehende und dumpf ins Schloss fallende Türen sowie der Klang von Schritten auf den Holztreppen komponieren eine regelrechte Geräusche-Symphonie des Schreckens, unterstützt durch den zurückhaltenden Score von Jeff Russo, der mit anschwellender Percussion arbeitet oder oft nur eine einzige Klaviertaste anschlägt – ein unheimliches Echo des bürgerlichen Klavierspiels. Diese Reduktion der Mittel erhebt „Lizzie“ zum subtil-psychologischen Thriller, der auf reißerisch-spekulative Effekte verzichten kann. Die Tat entsteht hier organisch aus dem ganz gewöhnlichen Alltagshorror. Macneill gelingt es so, den Stoff der trashigen Mystery-Welt zu entreißen und auf eine ernsthafte Ebene zu bringen, die aus „Lizzie Borden“ eine plausible und wohltuend einfache Emanzipationsgeschichte ihrer Zeit macht.