Halla führt ein Doppelleben. Einerseits ist sie die freundliche, etwa 50-jährige Chorleiterin, ein Single ohne Kind. Eine unauffällige, aber herzenswarme Frau mit einer Zwillingsschwester, die Yoga unterrichtet. Wenn Halla durch Reykjavik radelt, mal hierhin, mal dorthin grüßend, scheint sie mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Sie lebt in einem hellen Haus, auf ihren Fensterbänken blühen Topfpflanzen, an den Wänden hängen gerahmte Porträts von Mahatma Gandhi und Nelson Mandela. Helden von vielen.
Doch den friedlichen Protest, den reinen zivilen Ungehorsam, hat Halla hinter sich gelassen. Sie ist nämlich auch „Die Bergfrau“. Eine radikale Öko-Aktivistin, die im Alleingang zunächst auf Sachbeschädigung, dann auf gezielte Sabotage setzt und damit die nationale, stetig expandierende Aluminiumindustrie bekämpfen will. Wie sie das macht, ist bemerkenswert und zählt zu den ganz großen Momenten von „Gegen den Strom“. Denn dann attackiert sie, wie eine Artemis des Nordens mit Pfeil und Bogen bewaffnet, Strommasten und Leitungen, sprengt Sicherheitstüren und holt Drohnen vom Himmel.
Eine Kriegerin mit starkem Bezug zur Natur
Es sind Szenen voller Körperlichkeit, wenn man Halla nach ihren Guerilla-Aktionen durchs isländische Hochland hasten sieht, weil sie wie ein wildes Tier von Hunden und Helikoptern und bald auch von Spezialeinheiten gejagt wird. Sie entkommt immer und immer wieder. Aber es wird enger und bedrohlicher. Und auch die öffentliche Meinung kippt langsam zu ihren Ungunsten, schließlich weiß die Regierung, wie man Kommunikationspolitik betreibt.
Der isländische Regisseur Benedikt Erlingsson erzählt von einer „Woman at War“, wie der treffende internationale Verleihtitel des Spielfilms lautet. Denn nichts anderes ist Halla. Sie ist eine Kriegerin, und sie führt ihren Kampf gegen die Regierung, gegen internationale Wirtschaftsinteressen und für den Erhalt des isländischen Hochlands. Ihre Naturverbundenheit ist so groß, dass sie ständig den Kontakt zu Mutter Erde sucht, flach auf dem Heideboden liegend, als wenn sie daraus Energie ziehen könnte.
Doch gerade als sie ihren kühnsten Coup plant, wird sie durch eine unerwartete Nachricht aus dem Gleichgewicht gebracht. Ein Adoptionsantrag, vor Jahren gestellt und dann vergessen, wurde bewilligt. Ein vierjähriges Mädchen wartet in der Ukraine darauf, dass Halla sie zu sich holt. Was nun? Muss sie das eine für das andere aufgeben?
Absurde Musik-Elemente & ein spanischsprachiger Tourist
In seinem Debütfilm „Von Pferden und Menschen“ (2013) hatte Erlingsson episodenhaft genau davon erzählt, von Pferden und Menschen, die allesamt so eigensinnig wie schrullig sind. „Gegen den Strom“ besitzt hingegen mehr Bodenhaftung, einen klassischen Erzählbogen und vor allem eine große Dringlichkeit. Der Blick auf Island und seine Bewohner, der trockene Humor sind jedoch unverändert. Wiederum ist die Insel von skurrilen Menschen bevölkert, und die Kamera fängt die raue Landschaft in betörenden Bildern ein. Erneut irrt ein spanisch sprechender Tourist auf dem Fahrrad durchs karge Island. Was hat der hier bloß verloren? Alsbald wird er von der Polizei als Verdächtiger festgenommen. Ein Ausländer, ein Mann zudem, der Landessprache nicht mächtig, kann nur kriminell sein. Ständig taucht er wie aus dem Nichts und zu Unzeiten auf, was durchaus die Absurdität der Situation entlarvt und bittere Momente in unterschwellige Komik verwandelt.
Doch „Gegen den Strom“ ist vor allem die Geschichte einer Heldin, die Erlingsson mit großer Zärtlichkeit erzählt. Im Wortsinn begleitet wird Halla, großartig verkörpert von Halldóra Geirharðsdóttir, von einer dreiköpfigen Combo und drei ukrainischen Sängerinnen, die jeweils den passenden Soundtrack zu ihrem Leben liefern und Erinnerungen an Aki Kaurismäki oder Emir Kusturica wachrufen. Vielleicht bewährt man sich ja erst als wahrer Mensch, wenn man dem Unrecht auf dieser Erde nicht mehr tatenlos zusieht, sondern sich erhebt, den Mund aufmacht und etwas dagegen unternimmt. So wie Halla. Ihre Aktionen mögen streitbar sein, aber ganz gewiss ist sie eine Frau, die man gerne selber wäre, weil sie handelt, statt zuzusehen und abzuwarten, bis es zu spät ist.