Reizend „altmodische“ Fortsetzung der Abenteuer um das mit magischen Fähigkeiten begabte Kindermädchen Mary Poppins, die in den 1930er-Jahren erneut zwei einstigen Schutzbefohlenen unter die Arme greift.
Über dem morgendlichen London liegt nicht nur der Qualm der Schornsteine, sondern auch ein kleiner Schleier der Verunsicherung. Es sind die 1930er-Jahre; die Wirtschaftskrise hat den Engländern den alten Empire-Stolz gründlich ausgetrieben. Überall ist zu spüren, dass die Welt aus den scheinbar unverwüstlichen Fugen geraten ist. Zwar gibt es offensichtlich noch immer Frohnaturen wie den Laternenanzünder Jack, der durch die erwachende Stadt radelt und den herrlichen Londoner Himmel besingt. Doch selbst im idyllischen Kirschbaumweg mehren sichdie Zeichen für Auflösung und Verfall, sogar beim einstmals so akkuraten Admiral Boom. Noch immer feuert der alte Mann zur vollen Stunde Salutschüsse aus der Kanone auf seinem Hausdach ab, doch hinkt er seit längerem den Vorgaben von Big Ben hinterher.
Auch wenige Häuser weiter, in Nr. 17, haben die Zeitläufte seit den Tagen von Hausherr George Banks ihre Spuren hinterlassen: Das Hausmädchen Ellen fuhrwerkt nun, nicht unbedingt zu deren Vorteil, in der Küche, Tochter Jane ist als Erwachsene in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten und hat deren Kampf für Frauenrechte auf den Einsatz für die Arbeiterschaft übertragen, ihr Bruder Michael arbeitet in derselben Bank wie einst sein Vater. Die Stelle hat er aus Vernunftgründen angenommen, um nach dem Tod seiner Frau die drei kleinen Kinder Annabel, John und Georgie versorgen zu können. Das bewahrt ihn aber nicht davor, von Abgesandten seines Arbeitgebers ein Ultimatum zu erhalten, schleunigst ein Darlehen zurückzuzahlen, wenn er sein Haus nicht innerhalb einer Woche verlieren will.
Aus den Wolken sanft auf den Boden
Da er vollauf mit der Suche nach den wertvollen Anteilen seines Vaters an der Bank beschäftigt ist, kannsich der überforderte Michael noch weniger als sonst um seine Kinder kümmern und schwört bei dieser Gelegenheit gleich allen Träumereien der Vergangenheit ab. Seine Skizzen, Belege seiner Versuche als Maler, wandern auf den Abfall, ebenso wie sein vielgeklebter Kinderdrachen. Doch diesen hält es dort nicht lange. Ein unversehens aufkommender Sturm weht ihn in den nahen Park und hoch in die Wolken, von wo er sanft wieder in der Hand der einzigen Person zu Boden schwebt, die der Familie Banks in dieser Situation helfen kann: Mary Poppins, den Geschwistern Jane und Michael noch bestens vertraut als ihr höchst unkonventionelles früheres Kindermädchen.
Rund 20 Jahre sind in diesem fiktionalen Universum vergangen, seit Mary Poppins die Banks-Sprösslinge am Ende der ersten Verfilmung von P.L. Travers’ Kinderbüchern in der Obhut ihrer Eltern zurückließ und sich ihr Pflastermaler- und Schornsteinfeger-Freund Bert ihre baldige Wiederkehr wünschte. In der Realität hat es bis zum Kinostart von „Mary Poppins’ Rückkehr“ sogar 54 Jahre gedauert, was neben der ablehnenden Haltung der 1996 gestorbenen Buchautorin gegenüber dem Umgang der Disney-Studios mit ihren Kreationen auch dem Ausnahmestatus des Films bei so ziemlich jedem anderen Zuschauer geschuldet sein mag.
Ein Experiment ohne „Experimente“
Wenn nach Mary Poppins’ Ankunft im Kirschbaumweg Nr. 17 die Bemerkung fällt, sie sehe kaum älter aus als damals, wird damit auch das Programm des Films von Rob Marshall formuliert: Wo sich frühere Neuverfilmungen von Disney-Erfolgen der 1960er-Jahre wie „Flubber“ (nach „Der fliegende Pauker“) oder „Herbie Fully Loaded“ (nach „Ein toller Käfer“) mit mäßigem Ergebnis einem groberen Verständnis von Familienunterhaltung verschrieben, besteht das „Experiment“ bei „Mary Poppins’ Rückkehr“ darin, gerade kein Experiment zu wagen. Von der liebevollen Retro-Ausstattung über die weiten Raum einnehmenden Musical-Nummern bis zu den Sequenzen, in denen Schauspieler mit (hand-)gezeichneten Figuren zusammentreffen, bleiben Rob Marshall und der Drehbuchautor David Magee eng am Original, und auch der Handlungskern ist in beiden Filmen gleich: Während die Kinder staunend die magischen Fähigkeiten ihres neuen Kindermädchens kennenlernen und mit ihr Abenteuer erleben, erwartet die Erwachsenen die Lektion, sich nicht von der Arbeit und den Unbilden des Daseins vereinnahmen zu lassen.
Diese bewusst altmodische Herangehensweise ist risikoscheuer als bei Disneys jüngster, eher melancholischer „Winnie Puuh“-Variante „Christopher Robin“ oder auch bei den geschickt der heutigen Lebenswelt angenäherten britischen „Paddington“-Verfilmungen. Doch innerhalb der selbst gewählten Begrenzungen führt „Mary Poppins’ Rückkehr“ auf erstaunliche, oft sogar begeisternde Weise vor, wie viel Kreativität durch Nostalgie freigesetzt werden kann. So erfindet Emily Blunt, anscheinend unbeeindruckt vom ikonischen Status der Mary-Poppins-Interpretation von Julie Andrews, die Rolle vom ersten Moment an für sich neu. Blunts selbstbewusste Mary Poppins geht schnippischer und mit mehr beißender Ironie an ihr Werk als die eher freundlich-verbindliche Nanny von Andrews; auch wird die Eitelkeit der Figur jetzt stärker betont, auch wennsie trotzdem jederzeit eine warmherzige Helferin ihrer Schutzbefohlenen bleibt. Zudem erweist sich Blunt nach ihrer Rolle in Marshalls „Into the Woods“ erneut als variationsreiche Sängerin, die ein gefühlig-tröstendes Schlaflied ebenso überzeugend vermittelt wie flotte Duette oder die Einbindung in eine aufwändige Tanz-Choreografie mit dem allzeit hilfsbereiten Jack und seinen Lampenanzünder-Kollegen.
Visuelle Originalität, Spannung, Wortwitz
In den fantasievollen Abenteuern der Kinder mit Mary Poppins, die lästige Alltagserfahrungen wie Bäder und Spaziergänge zu unvergesslichen Erlebnissen macht, ist „Mary Poppins’ Rückkehr“ ähnlich episodisch wie P.L. Travers’ Buchvorlagen und der erste Film. Die zweite Handlungsebene mit Michaels Bemühungen, den Verlust des Hauses zu verhindern, ist hingegen stringenter, dramatischer und läuft auf ein immer knapper werdendes Rennen gegen die Zeit zu, bei dem Mary Poppins, Jack und die anderen Laternenanzünder schließlich hilfreich eingreifen. Sorge um die Lösung der Notsituation hat man zwar auch vorher nicht; dafür wird die angedeutete, aber nie sichtbare harte Realität der Depressionszeit zu konsequent ausgeblendet. Als unbeschwerte märchenhafte Unterhaltung weist der Film jedoch kaum Schwächen auf und verbindet spielend visuelle Originalität, Wortwitz, Spannung und anrührende Momente. Ganz so, wie Jack sehr treffend sagt, wenn Mary Poppins und die Kinder auf der Leiter Platz nehmen, mit der er auf seinem Fahrrad durch die Straßen steuert: „Alles kommt auf die Balance an.“