Schwarz-weißes, naturalistisch bebildertes Märchen aus vergangenen Zeiten, das eine skurrile estnische Sagenwelt mit einer bewusst einfachen Story um zwei junge Dorfbewohner und ihre unheiligen Allianzen heraufbeschwört.
Es war einmal. An einem Ort, in dem das Schwarz und das Weiß alle Farbe vertrieben haben. In einer unwirklichen Welt, wo inmitten einer geheimnisvoll-unberührten, sich sanft windenden Natur einsam-verstohlene Siedlungen liegen, die von einem herrschaftlichen Landsitz überragt werden. Von dort aus besucht ein deutscher Baron die Höfe seiner Ländereien, die zwischen lichten Wäldern und ausgedehnten Wiesen im Zeitverlorenen siedeln. Seine Tochter ist dabei ständige Begleiterin, ganz zur Freude des Dorfjungen Hans, der einen Narren an der unnahbaren Schönheit gefressen hat. Dabei ist Hans eigentlich schon vergeben – zumindest, wenn es nach der ein wenig anämischen Liina geht, die seit Kindertagen Ansprüche gegenüber dem Nachbarsjungen hegt.
Es ist November, kurz vor Totensonntag; die Zeit, in der das Grau der Wolken die matte Sonne nahezu gänzlich überdeckt. Jene düsteren Wochen, in der die Menschen im Dorf der Toten gedenken, mit ihrem Herzen ganz bei den Verstorbenen sind und sogar Essen und Trinken mit ihnen teilen.
Die Ereignisse, von der der estnische Regisseur Rainer Sarnet in „November“ erzählt, sind ganz der Gattung des Märchens verhaftet, insbesondere jenen, die Hans Christian Andersen in seinen dunkelsten Fantasien entwirft. Wie selbstverständlich stapfen hier die Toten am Sonntagabend durch die von fahlem Mondschein erleuchteten Wälder. Sie gehören genauso zum Dasein wie die wundersamen Maschinenwesen und andere Erscheinungen, die mit dem Teufel im Bunde sind. In archaischen, kalkweißen Roben schreiten die Toten prozessionsartig zu den Lebenden und lassen sich von ihnen beköstigen.
Eine Welt mit Hexenwerk, Werwolf-Kult und Teufelspakten
Das Estland, von dem hier erzählt wird, ist verschroben und knorrig. Die Familien, die eher durch die Not als durch die Kraft der Sympathie miteinander verbunden scheinen, beherrschen das Hexenwerk oder sind dem Werwolf-Kult verfallen. Wenn sie einen willfährigen Hausdiener benötigen, verkaufen sie schon mal ihre Seele an den Teufel. Diese „Krats“ sind keine Menschen, sondern rostig-knochige Maschinenwesen; man fühlt sich an die Kunstwerke von Jean Tinguely erinnert, auf unheilige Art durch einen Teufelsfluch zum Leben erweckt.
In diesem Ambiente entbrennt der Bauernjunge für die Baronesse und Liina für Hans. Beide Liebenden lassen sich einiges einfallen, um ihrem Ziel näher zu kommen. Einiges davon geht nicht mit rechten Dingen zu. Doch während es Liina nicht übers Herz bringt, der schlafwandelnden Adeligen einen tödlichen Stoß zu versetzen, riskiert Hans durch einen Pakt mit dem Teufel seine Seele, um das kurzsichtige Liebesziel zu erreichen.
Es sind ganz banale Geschichten von Liebe und Tod, die in Sarnets Märchen so wunderbar entrückt, archaisch und verstörend erscheinen. Die Ernsthaftigkeit, mit der hier eine fantastische Welt zelebriert wird und in den wunderbar ausgeleuchteten Schwarz-weiß-Bildern von Mart Taniel gleichermaßen realistisch wie naturalistisch erscheint, unterscheidet sich nur formal von den Werken anderer Seelenverwandter wie Guy Maddin oder Alexander Sokurow, die ihre Erzählwelten mit absurden Tiefenschärfen, Fischauge-Objektiven, Unschärfen oder Körnungen verfremden. Sarnet aber will nichts abstrahieren, sondern präsentiert seine Märchenwelt in aller Unverblümtheit, ein paar wenige, dafür beachtliche Spezialeffekte inklusive.
Ein Film voller köstlich-skurriler Kabinettstückchen
Wie in Ingmar Bergmans „Das siebente Siegel“ der schachspielende Todschleicht bei Sarnet die todbringende Pest in Menschengestalt durch die Scheunen und kascht sich den ein oder anderen, der sich nicht durch eine List zu entziehen vermag. „November“ ist voller solcher skurriler Kabinettstückchen und doch so unheilig in seiner Grundstimmung. Was dabei aus den Protagonisten wird, scheint nicht wichtig zu sein. Denn in dem wundersamen, wie nicht von dieser Welt abstammendem Film ist das „Wie“ der Inszenierung viel wichtiger als das „Was“.