Der marktgerechte Patient
Dokumentarfilm | Deutschland 2018 | 83 Minuten
Regie: Leslie Franke
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2018
- Produktionsfirma
- Kernfilm
- Regie
- Leslie Franke
- Buch
- Herdolor Lorenz
- Kamera
- Stefan Corinth · Hermann Lorenz
- Musik
- Hinrich Dageför · Stefan Wulff
- Schnitt
- Leslie Franke · Herdolor Lorenz
- Länge
- 83 Minuten
- Kinostart
- 08.11.2018
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Aufrüttelnder Dokumentarfilm über die Kommerzialisierung deutscher Krankenhäuser, durch die Behandlungen wirtschaftlichen Überlegungen folgen. Neben einer bitteren Bilanz zeigt der Film auch Gegenmodelle und bietet einen facettenreichen Blick in Krankenhausalltag und gesundheitspolitische Zusammenhänge.
„Ein ganzes Rudel privater Krankenhausbetreiber“ warte nur darauf, dass Kommunen öffentliche Häuser abstoßen, schreibt der deutsche Chirurg Ulrich Hildebrand bereits 2016 in seiner streitbaren Abrechnung mit dem deutschen Kliniksystem „Die Krankenhausverdiener“. Der ehemalige Chefarzt ist einer der zahlreichen Mediziner, Patienten und Politiker, die in dem Dokumentarfilm „Der marktgerechte Patient“ von Leslie Franke und Herdolor Lorenz zu Wort kommen. Bei allen Entscheidungen im Krankenhausalltag gehe es nur noch ums Geld, so der Münchner Oberarzt für Anästhesie, Peter Hoffmann: „Das Krankenhaus wird geführt wie eine Fabrik. Maximaler Output, minimaler Aufwand, und der Patient wird zum Werkstück. Die Abläufe werden industriell strukturiert, der Patient wird vorne eingefüllt und kommt hinten raus, und zwar bitte ein bisschen schneller. Geht das nicht einen Tag schneller?“
Gespart wird überall, besonders am Personal. Die Versorgung und Pflege der Patienten wird dabei immer schwieriger, und auch die Pflegekräfte selbst werden bei der ständigen Überlastung krank. Als Hauptursache für diese alarmierenden Zustände haben die Filmemacher die seit 2003 verbindliche Vergütung der Krankenhäuser durch sogenannte „Fallpauschalen“ ausgemacht. Sie setzt für jede diagnostizierbare Krankheit eine Preispauschale fest. Wer mit möglichst geringen Kosten den Patienten schnell abfertigt, macht Gewinn; wer sich zu lange auf die Patienten einlässt und zeitaufwändige Pflege betreibt, macht Verluste. Hintergrund für die Maßnahme war einst die Schreckensvision von einer Kostenexplosion im Gesundheitssystem, sie habe aber, so die Kommentare im Film, die solidarische Gesundheitsfürsorge zerschlagen.
Dabei war die Kommerzialisierung der Krankenhäuser auch ein erster Schritt zur Privatisierung der Kliniken. So geschehen in Hamburg, wo vor vierzehn Jahren das Unternehmen Asklepios der Stadt zehn Kliniken abkaufte, gegen den Willen der Bevölkerung. 77 Prozent der Hamburger stimmten in einem Volksentscheid gegen die Privatisierung der Krankenhäuser. Die Filmemacher sprechen mit Patienten und den Angehörigen verstorbener Patienten, die als Opfer des Pflegenotstands und des Personalmangels in den renditeorientierten Kliniken ausgemacht werden. Deren Betreiber äußern sich nicht, denn „die Asklepios-Leitung hat sich all unseren Interviewanfragen verweigert“, so der Off-Kommentar lakonisch.
Viele Patienten sehen sich in der Effizienzfalle
Auch in München machen die Filmemacher eine vergleichbare Effizienzfalle der öffentlichen Kliniken aus: Die Kosten werden von externen Gutachtern nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien bewertet. Eine Kinder- oder Geburtenklinik ist nicht marktgerecht, eine langwierige Behandlung auch nicht. Marktgerecht ist alles, was schnell geht und viel Geld bringt, besonders natürlich chirurgische Eingriffe: „Wenn Sie zum Beispiel an einen Menschen mit einer chronischen Diabeteserkrankung denken, der schon Komplikationen hat“, sagt eine Ärztin, die sich aus dem Krankenhausbetrieb zurückgezogen hat, „so ist eine Amputation viel besser dotiert als die chronische Wundbehandlung, die selbstverständlich sehr viel Zeit erfordert, aber zum Erfolg führen kann.“ In einem System der Gewinnmaximierung sehen sich viele Patienten, aber auch kommunale Politiker nur noch als Spielball einer perfiden Effizienzlogik, nach der städtische Krankenhäuser noch mehr operieren und amputieren müssen, damit die öffentliche Hand den Kreißsaal finanzieren kann.
Über die Vielzahl der Meinungen und Einblicke in den Arbeits- und Pflegenotstand ruft der Film zur gesellschaftlichen Solidarität auf: „Die Stärke einer Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht“, sagt die Mutter eines krebskranken Kindes in der Freiburger Kinderklinik. Leslie Franke und Herdolor Lorenz ziehen eine bittere Bilanz, zeigen aber auch Umdenken und Widerstand gegen die unerträgliche Situation in deutschen Krankenhäusern: Nach Streiks gegen den eklatanten Mangel an Pflegepersonal in Dortmund verzichtet die Klinikleitung auf externe betriebswirtschaftliche Gutachter und berät sich stattdessen mit dem eigenen Personal.
„Der marktgerechte Patient“ ist eine beklemmende Analyse, wie Effizienzhysterie und Marktgläubigkeit ein Gesundheitssystem heruntergewirtschaftet haben und bietet auch über die Vielfalt der Gesprächspartner einen facettenreichen und spannenden Einblick in Krankenhausalltag und gesundheitspolitische Zusammenhänge.