Überall wo wir sind

Dokumentarfilm | Deutschland 2018 | 96 Minuten

Regie: Veronika Kaserer

Sensibler Dokumentarfilm über einen krebskranken jungen Mann, der nach Jahren der Behandlung zum Sterben ins Haus seiner Eltern zurückkehrt. Die zurückhaltende Drehweise mit kleinem Team und die sensible Gesprächsführung der Regisseurin, aber auch die ebenso offenen wie (lebens-)klugen Protagonisten schaffen ein berührendes Porträt des Sterbens wie der Lust am Leben. Der Film zeigt höchst unterschiedliche Ansätze, mit Trauer und Verlust umzugehen, und gewinnt in seiner Konzentration aufs Wesentliche universellen Charakter. Das Filmmaterial ist a-chronologisch montiert und lässt damit auch dem (Weiter-)Leben seinen Raum. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Veronika Kaserer
Regie
Veronika Kaserer
Buch
Veronika Kaserer
Kamera
Veronika Kaserer · Jan Zabeil · Jakob Stark
Musik
Uwe Bossenz · Tom Werner
Schnitt
Kathrin Dietzel
Länge
96 Minuten
Kinostart
11.10.2018
Fsk
ab 6
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Sensibler Dokumentarfilm über einen krebskranken jungen Mann, der zum Sterben ins Haus der Eltern zurückkehrt. Die a-chronologische Montage zeigt höchst unterschiedliche Ansätze, mit Trauer und Verlust umzugehen, und vollzieht keine Trennung zwischen „Vorher“ und „Nachher“.

Diskussion

Einerseits klingt es abgedroschen. Andererseits scheint es einfach die passende Umschreibung für diesen Film zu sein: „Überall wo wir sind“ ist eine Feier des Lebens. Und das, obwohl der Dokumentarfilm vom Tod eines 29-Jährigen handelt. Über Monate hinweg begleitete die Filmemacherin Veronika Kaserer den an Krebs erkrankten Tanzlehrer Heiko und seine Familie, auch über dessen Tod hinaus. Seit sieben Jahren ist der Berliner fast dauerhaft in Behandlung, und damit deutlich länger am Leben geblieben, als die Ärzte prognostiziert hatten. So haben sich Heiko und sein Umfeld schon fast daran gewöhnt, dass er trotz seiner fortschreitenden Krankheit einfach immer weiterlebt. Bis eines Tages die Diagnose kommt, dass die Chemotherapie aufgrund mangelnder Erfolge abgebrochen werden muss. Und Heiko zum Sterben nach Hause zieht, ins Haus seiner Eltern.

Gänzlich unkommentiert zeigt Kaserer all die äußeren Vorgänge rund um den Tod des jungen Mannes, vom Umbauen des Wohnraums zum Krankenzimmer über das tägliche Versorgen des schwer Kranken und gelegentliche kleine Spazierfahrten hin zu Gesprächen mit der Palliativärztin. Schließlich auch das Ausräumen der Wohnung des Verstorbenen und die Beisetzung seiner Asche bei einer gemeinsamen Bergwanderung im engsten Freundes- und Familienkreis. Vor allem aber zeigt die Filmemacherin die vielen Menschen, die ständig um Heiko sind, die geselligen Runden, die sich fast täglich im Haus der Familie Lekutat zusammenfinden, zum Krankenbesuch, zum gemeinsamen Essen oder Kartenspielen: Eine große Gruppe junger Menschen, Freunde von Heiko und seiner Schwester Sonja, doch auch die Eltern Karin und Jürgen sind stets mittendrin. Man kennt sich durch gemeinsame Skiurlaube, aber natürlich auch vom Tanzen, der Leidenschaft von Vater und Sohn.

Veronika Kaserer war bei ihrem Langfilmdebüt Produzentin, Kamerafrau und Regisseurin in Personalunion. Während der Dreharbeiten filmte sie auch aus finanziellen Gründen im Großteil der Fälle alleine, nur bei etwas größeren Szenen wurde sie von einem extra Kameramann unterstützt – der Film ist bis auf eine kleine Künstlerförderung aus Italien ganz ohne Förder- und Sendergelder entstanden. Das kleine Filmteam merkt man diesem sehr persönlichen Porträt an, ganz natürlich agieren die Protagonisten, als hätten sie die Anwesenheit der Kamera im Raum völlig vergessen. Und auch in den Gesprächen mit der Autorin öffnen sich die Angehörigen sehr, allen voran Vater Jürgen, ein sehr warm- und offenherziger Mensch. Er hofft bis zuletzt auf ein Wunder, ebenso wie Heiko – die beiden haben ohnehin eine ungewöhnlich enge Verbindung zueinander. Mutter Karin hingegen versucht eher, ihren Sohn aufs Sterben vorzubereiten und ihm von ihrer eigenen Nahtoderfahrung zu erzählen, die ihr selbst die Angst genommen hat. Schwester Sonja hingegen stürzt sich ins Kümmern und Organisieren, und Heiko selbst wahrt stets eine gewisse Distanz, macht vieles mit sich alleine aus.

Damit zeigt dieser ebenso behutsame wie intensive Film sehr unterschiedliche Ansätze, mit Trauer und Verlust umzugehen. Aber er zeigt eben auch, wie das Leben trotz allem weitergeht, und: Warum es lebenswert ist. In dieser Hinsicht ist natürlich die Tanzbegeisterung der Lekutats ein Volltreffer, die mit Ausschnitten aus alten Super-8-Filmen von Heikos Turnierteilnahmen und neuen Aufnahmen des gemeinsam tanzenden Freundes- und Verwandtenkreises illustriert wird. Sogar mit Prothese, die er nach der Amputation eines Beines tragen muss, macht Heiko noch seine Tanzschritte. Gut gewählt sind die Protagonisten auch deshalb, weil sie so normal und gewissermaßen „durchschnittlich“ wirken, sich zugleich aber als ausnehmend sympathisch wie (lebens-)klug erweisen.

„Überall wo wir sind“ lebt durch seine Figuren, denen Veronika Kaserer mit ihrer zurückhaltenden Drehweise und sensiblen Gesprächsführung den nötigen Platz zur Entfaltung gibt. So entstehen wunderbar berührende Beobachtungen wie jene von Heikos engem Freund Alex, der darüber sinniert, wie er den Händedruck mit dem Todkranken plötzlich ganz bewusst wahrnimmt – und in diesem „Festhalten und Loslassen gleichzeitig“ ein Bild fürs Trauern erkennt.

Eine gewisse universelle Gültigkeit und Konzentration aufs Wesentliche erfährt der Dokumentarfilm auch durch die Entscheidung, auf die Spezifizierung von Heikos Krebs oder jegliche Kommentierung der Figuren und Geschehnisse zu verzichten. Und noch etwas erweist sich als enorm kluger Schachzug: Die Filmemacherin trennt nicht in ein „Vorher“ und „Nachher“, das Material vor und nach Heikos Tod ist a-chronologisch ineinander montiert. Damit bildet der Moment des Sterbens nicht den einzigen Fluchtpunkt dieser Geschichte – und der Film lässt auch dem (Weiter-)Leben seinen Raum.

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