Mit ihrem fulminanten Spielfilmdebüt „Der Babadook“ (2014) gelang der australischen Regisseurin Jennifer Kent auf Anhieb der internationale Durchbruch. Der Horrorfilm kreist um eine alleinerziehende Mutter und ihren verhaltensauffälligen Sohn, die in ihrem Haus von einer unheimlichen Gestalt heimgesucht werden. Kent, die auch das Drehbuch zu dem Film schrieb, machte daraus nicht nur ein höchst suggestives Schauerstück, sondern ließ durch den Horror hindurch das fesselnd-beunruhigende Porträt einer Frau aufscheinen, deren Liebe zu ihrem Kind von latenten Aggressionen konterkariert wird, die aus der Überforderung durch die Mutterrolle herrühren und sich im Babadook manifestieren.
Um weibliches Aggressionspotenzial, das aus Leiden entsteht und blutig auf Rollenzwänge antwortet, geht es in weit direkterer und drastischerer Form auch in „The Nightingale“, der 2018 beim Filmfestival in Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. In Genre-Kategorien gesprochen, handelt es sich um ein Rape-and-Revenge-Movie. 1825 verbüßt die Irin Clare (eine Entdeckung: Aisling Franciosi) wegen eines marginalen Delikts eine Strafe in der britischen Strafkolonie Van Diemen’s Land (Tasmanien). Dort hat sie mittlerweile eine Familie gegründet und dient in einer Art Leibeigenschaft dem selbstherrlichen Leutnant Hawkins (Sam Claflin). Der behandelt sie wie (sexuelles) Freiwild und tötet in einem Exzess der Grausamkeit zusammen mit einigen seiner Soldaten schließlich Clares Mann und ihr Baby. Doch statt sich ihrem Schmerz zu ergeben, bricht Clare daraufhin aus der Opferrolle aus und nimmt die Jagd auf ihre Peiniger auf, um blutige Vergeltung zu üben.
Sträuben gegen die archaische Gefühlsmechanik
„The Nightingale“ sträubt sich allerdings gegen die archaische Gefühlsmechanik des Rache-Genres, die die ZuschauerInnen erst mit dem Leidensszenario konfrontiert, um ihnen dann die Genugtuung des gewaltsamen Gegenschlags zu bereiten. Einerseits ist Kents Inszenierung kontemplativer als bei gängigen Rachethrillern, in den Gewaltszenen anderseits aber so ungemein realitätsnah und so nah am Erleben der Hauptfigur, dass diese nur schwer zu ertragen sind – kein goutierbarer Thrill, sondern purer Horror. Zudem verpasst Kent, von der erneut auch das Drehbuch stammt, dem Plot nach der Hälfte einen Drall in eine andere Richtung: Nachdem Clare den ersten aus der Gruppe um Hawkins zur Strecke gebracht hat – in einer Szene, die nicht nur schockierend drastisch, sondern vor allem auch unendlich traurig ist – beginnt sie an ihrer Rachemission zu zweifeln.
Zudem unterläuft die Regisseurin die Schlichtheit des Rache-Genres, indem sie es mit einem anderen kreuzt: "The Nightingale" ist auch ein Kolonialdrama aus der Zeit des „Black War“, jenes Vernichtungskriegs der britischen Kolonialisten, dem in den 1820er-Jahren fast die gesamte indigene Bevölkerung in Tasmanien zum Opfer fiel. In „The Nightingale“ kreuzen sich früh die Wege der Irin Clare mit denen des Aborigine Billy (Baykali Ganambarr): Sie heuert ihn als Führer und Fährtenleser an. Aus dieser Zweckgemeinschaft entwickelt sich durch die einende Erfahrung des Geknechtet-Seins unter den britischen Kolonialherren bald eine Freundschaft.
Eine Konstellation, mit der sich die Inszenierung auf dünnes Eis begibt: wie leicht könnte hier das alte Klischee vom weißen Helden und seinem hilfreichen „edlen wilden“ Sidekick (à la Robinson und Freitag oder Lone Ranger und Tonto) mitschwingen; wie leicht könnte der Impuls, eine Allianz der Unterdrückten gegen die „bösen weißen Männer“ ins Feld zu schicken, das Faktum negieren, dass die Situation der Irin und die des australischen Ureinwohners zwar Parallelen besitzen, aber doch zwei grundverschiedene Dinge sind.
Eine unüberbrückbare Differenz bleibt bestehen
Die Regisseurin scheint sich dieser Untiefen allerdings durchaus bewusst zu sein und umschifft sie, indem sie Billy zur zweiten, gleichberechtigten Hauptfigur aufbaut und bis zum Ende eine unüberbrückbare Differenz zwischen ihm und Clare bestehen lässt. Zwar legt Clare die rassistischen Vorurteile gegenüber Billy, die sie genauso wie die Engländer mit nach Australien gebracht hat, im Lauf der gemeinsamen Jagd ab. Doch als Clare ihre Mission zu hinterfragen beginnt und sich durch die wachsende Nähe zu Billy und die gemeinsame Reise durch die von Kameramann Radek Ladczuk beeindruckend-schön in Szene gesetzte Landschaft wieder mehr dem Leben als dem Tod zuwendet, wird klar, wie unterschiedlich die Perspektiven der Figuren doch sind.
Selbst als Strafgefangene ist Clare Teil jener neuen weißen australischen Bevölkerung, die in dem Land eine Zukunft findet. Billys Zukunft in einer Heimat hingegen ist gerade dabei, für immer ausgelöscht zu werden. Kent zollt dieser Tatsache am Ende des Films ihre Reverenz. Der Titel „The Nightingale“ bezieht sich auf Clares schöne Singstimme, mit der sie zu Beginn die britischen Soldaten unterhält – bei aller Missachtung, die ihr widerfährt, besitzt sie mit ihren Liedern etwas, was wertgeschätzt wird; später wird Clare dieses kulturelle Pfund, das ihr bei den Briten wortwörtlich Gehör verschafft, auf überraschende Weise nutzen. Billy hingegen besitzt nichts Vergleichbares; seine Kultur findet nur Verachtung. Die einzige Sprache, mit der er zu den Kolonialisten durchdringen kann, ist die der Gewalt.