Es muss fürchterlich gewesen sein in Hamburg, Anfang Juli 2017: „Familien kauerten angstvoll hinter Vorhängen und mussten mit ansehen, wie ihre Autos lichterloh brannten und sich die Stadt in schwarze Rauchsäulen hüllte.“ So erinnert Dirk Nockemann, AfD-Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft, jene Tage, als in Hamburg aus Anlass des G20-Gipfels bürgerkriegsähnliche Verhältnisse herrschten, obwohl gleichzeitig der größte Polizeieinsatz der deutschen Nachkriegsgeschichte stattfand. Doch fast 32000 bestens ausgebildete Polizisten und 600 Spezialeinsatzkräfte mit Schusswaffenfreigabe waren nicht in der Lage, ein paar Hundert Randalierer am Plündern und Zündeln zu hindern. Warum? Ein Verdacht drängt sich auf: Weil Bilder gebraucht wurden, um die vor Ort herrschende Außerkraftsetzung von Grundrechten wie etwa die Versammlungs- und Pressefreiheit zu legitimieren.
Der Film „Hamburger Gitter“ zeichnet das recht komplexe Bild einer „self fullfilling prophecy“, in der im Vorfeld des G20-Gipfels durch die Polizei und den Innensenator die Anwesenheit von 8000 gewaltbereiten Gipfel-Gegnern beschworen wurde und alle anderen, zumeist friedlichen Protestformen, unerwähnt blieben. Mit einer Mischung aus beeindruckendem Archivmaterial und Talking Heads von G20-Kritikern unterschiedlichster Couleur von der Rechtsanwältin über den Soziologen, den Polizeiwissenschaftler, den Buchautor und diversen Journalisten bis hin zu Aktivisten werden Mechanismen eines autoritären Kontrollstaats sichtbar, der bei Anzeichen einer ernsthaften Herausforderung demokratische Grundrechte kurzerhand als Störung begreift und (vielleicht) einen Wendepunkt in der deutschen Sicherheitspolitik einläutet.
Der Hamburger Soziologe Rafael Behr spricht mit Blick auf die Strategie der Polizei von einer „Simulation von Kompetenz“, weil nicht auszumachen sei, ob die Kollateralschäden der Juli-Tage und -Nächte auf einer Fehleinschätzung beruhten oder willentlich in Kauf genommen worden sind. In Hamburg wurde nicht nur auf die Strategie polizeilicher Dominanz gesetzt, sondern es erscheint vielmehr so, als seien die gewalttätigen Ausschreitungen im Schanzenviertel billigend in Kauf genommen worden, um die gewünschten Bilder zu erhalten, die die außerordentliche Härte des in diesem Fall sogar paramilitärischen Vorgehens legitimierten.
„Hamburger Gitter“ handelt (auch) von zum Teil drastischer Polizeigewalt, die sogar filmisch dokumentiert ist, aber bislang in nur einer Handvoll Fällen intern verfolgt wurde. Im Verhalten der Einsatzkräfte, so wie es Augenzeugen und Opfer anschaulich schildern, wird ein Freund-Feind-Denken und eine Lust am Ausnahmezustand sichtbar, die an die Überlegungen von Carl Schmitt denken lassen, und deutlich an der Profilierung eines inneren Feindes und dessen Einschüchterung interessiert sind.
Es ist im Film mehrfach die Rede davon, dass die Einsatzkräfte gewalttätig und rabiat gegen Demonstranten vorgegangen seien, aber kaum jemand in Gewahrsam genommen wurde. Gerade bei den polizeilichen Beweissicherungs- und Festnahmekräften sei mit einem männlichen Kriegertypus zu rechnen, die sich diesen Job nicht grundlos ausgesucht hätten, sondern den Adrenalinkick suchten.
Die Polizeigewalt und der dazu passende Korpsgeist sind aber nur Teilaspekte eines umfassenderen Skandals. Was nachdenklich macht, ist die Systematik des behördlichen Vorgehens im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel, die der Film dokumentiert. Da ignoriert die Polizei Gerichtsbeschlüsse, die die Zulässigkeit von Protest-Camps gestattet hatten. Da wird aufgrund der urbanen Topografie bei Einsätzen trotz Warnungen Massenpanik in Kauf genommen. Es gibt sexistische Rechtsverstöße im Umgang mit Inhaftierten. Die Staatsanwaltschaft versucht keine Rechtsbrüche mehr nachzuweisen, sondern wertet die Anwesenheit bei einer Demonstration als „psychische Beihilfe zu schwerem Landfriedensbruch“. Der Regierende Oberbürgermeister der Stadt Hamburg, Olaf Scholz, erklärte nicht nur, dass es keine Polizeigewalt gegeben habe, sondern forderte von der Justiz härteste Strafen für die Inhaftierten. Anschließend verabschiedete sich Scholz, der die politische Verantwortung für das Geschehen trägt, nach Berlin in die Bundespolitik.
Zu reden wäre auch davon, dass die SoKo „Schwarzer Block“ vorgibt, in Tausenden von Fällen zu ermitteln, es bislang aber lediglich 40 Verurteilungen zu teilweise drastischen Freiheitstrafen und 51 Personen gibt, die in Untersuchungshaft sitzen. Gegen 319 namentlich bekannte Personen wird ermittelt. Zu reden wäre auch, dass die Behörden sich bei den Ermittlungen der öffentlichen Fahndung unter Zuhilfenahme von Medien wie der „Bild“-Zeitung bedienten. Ohne konkreten Tatverdacht, versteht sich.
Schließlich gibt es auch noch die Aussage des Polizeisprechers Timo Zoll, der von „Tatbeobachtern“ spricht, die sich unter die Demonstranten gemischt hätten, um Straftäter zu identifizieren und diese Information an die Einsatzkräfte weiterzugeben. Zoll wörtlich: „Wenn jemand sich im Schwarzen Block bewegt, wird er keine weiße Kleidung tragen.“ Ein Schelm, wer da nicht an Peter Urbach denken muss, der als Agent Provocateur einst die Berliner Szene mit Waffen und Sprengsätzen versorgte. Oder an die Arbeit der Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex. Oder an das neue bayerische Polizeigesetz.
Wird das, was heute beim Sehen von „Hamburger Gitter“ empört, in ein paar Jahren die Legalität sein? In der Hamburger Politik und auch in der Bundespolitik, so wird gesagt, herrsche mehrheitlich nicht nur kein Aufklärungsbedarf, sondern nicht einmal ein Problembewusstsein. Im G20-Sonderausschuss herrsche seitens der in Hamburg regierenden SPD und der Polizeibehörde keinerlei Aufklärungswille. Fast scheint es, als sei es den Filmemachern am Schluss selbst etwas mulmig geworden angesichts der Dichte ihres Materials, weshalb die düsteren Prognosen über die drohende Unterdrückung von Opposition mit Bildern friedlich-bunten Protestes unterlegt sind. Die Musik der Band „Tocotronic“ sorgt am Ende für ein aufmunterndes Schulterklopfen, sich trotz alledem nicht einschüchtern zu lassen: „Im Zweifel für den Zweifel“.