Außergewöhnlicher Essayfilm, in dem die Dokumentaristin Regina Schilling im Rückgriff auf Unterhaltungssendungen des Fernsehens aus den 1960er- und 1970er-Jahren mehr über ihren früh verstorbenen Vater in Erfahrung bringen will. Der sorgsam gearbeitete, sich nur auf Archivmaterial stützende Film entfaltet verblüffende Parallelen zwischen Zeit- und Fernsehgeschichte. Vor dem Hintergrund der Biografien von Hans-Joachim Kulenkampff, Peter Alexander und Hans Rosenthal erscheinen die Rate- und Gewinnshows der 1960er- und 1970er-Jahre als eine Art Wellness-Programm für eine traumatisierte Nation, in denen sich zugleich aber auch Erfahrungen der Kriegsgeneration widerspiegelten.
- Sehenswert ab 14.
Kulenkampffs Schuhe
Dokumentarfilm | Deutschland 2018 | 92 Minuten
Regie: Regina Schilling
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2018
- Produktionsfirma
- Zero One Film
- Regie
- Regina Schilling
- Buch
- Regina Schilling
- Musik
- Wolfgang Böhmer
- Schnitt
- Jamin Benazzouz
- Länge
- 92 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Außergewöhnlicher Essayfilm, in dem die Dokumentaristin Regina Schilling im Rückgriff auf Unterhaltungssendungen des Fernsehens aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die sie als eine Art Wellness-Programm für eine traumatisierte Nation deutet, mehr über ihren früh verstorbenen Vater in Erfahrung bringen will.
Diskussion
In Lutz Dammbecks intellektuellem Abenteuerfilm „Overgames“ (fd 43 820) ließ eine Bemerkung von Joachim Fuchsberger aufhorchen, dass er seine Fernseh-Spielshow „Nur nicht nervös werden“ zur Unterhaltung einer „psychisch gestörten Nation“ gemacht habe. Dammbeck folgt in „Overgames“ den Spuren eines Erziehungs- und Trainingsprogramms, das Westdeutschland nach 1945 im Zeichen der Re-Education als eine Art von Großlabor nutzte, um aus einer totalitären Gesellschaft eine demokratische Gesellschaft zu formen. Seine Recherchen führten ihn dabei bis zur Französischen Revolution und Jean-Jacques Rousseau zurück, bei dem das Konzept einer permanenten Revolution seinen Ausgang nahm.
In Regina Schillings äußerst sehenswerter Dokumentation „Kulenkampffs Schuhe“ taucht Fuchsberger ebenfalls auf, als blutjunger Schauspieler in Paul Mays Kriegsfilms-Trilogie „08/15“ (fd 3563). Im Unterschied zu Dammbeck zielt Schilling aber nicht aufs Große und Ganze, sondern setzt ihre Erinnerungen an ihren früh verstorbenen Vater mit den gemeinsam im Kreis der Familie vor dem Fernseher verbrachten Stunden in Beziehung. Schilling (Jahrgang 1962) rekonstruiert recht materialreich die Biografie ihres Vaters (Jahrgang 1925), der sich nach dem Krieg als Drogist in Köln selbstständig machte, als CDU-Anhänger das Wirtschaftswunder erlebte, kein sonderlich glückliches Familienleben führte und sich schließlich ökonomisch wie finanziell übernahm. Als er hochverschuldet starb, war die Tochter elf Jahre alt. Vom Krieg, so Schilling, wurde zuhause nicht gesprochen. Nach der ersten Herzattacke wurde dem Vater jede Aufregung untersagt; als beste Medizin erwiesen sich dabei die Shows im Fernsehen.
Schilling hat sich in die Archive begeben und recherchiert, wer wen womit unterhalten hat. Hier kommen auch die von Dammbeck analysierten Gameshows ins Spiel, deren Konzepte in den USA unter anderem in der Psychiatrie entwickelt wurden. Was Schilling und ihre Rechercheure Monika Preischl und Elisabeth Harris in den Archiven ausgegraben haben, ist ein staunenswerter, teilweise schon fast zu sehr auf Pointe gearbeiteter Essayfilm über eine traumatisierte Nation. „Einer wird gewinnen“, „Dalli Dalli“ oder die „Peter Alexander Show“ versprachen gute Unterhaltung für die ganze Familie und wurden von der Kritik vielleicht etwas zu schnell als harmlos abgetan. Schilling wählt mit Bedacht die kindliche Perspektive auf das Geschehen in der Glotze mit den vertrauten Moderatoren. Und stellt dann Fragen ans Material beziehungsweise stellt Zusammenhänge her, die einen genaueren Blick ermöglichen.
Wer glaubt, dass es hier nur um heile Welt ging und dass nicht vom Krieg gesprochen wurde, täuscht sich. Hans-Joachim Kulenkampff (Jahrgang 1921) hält die Erinnerungen an den Krieg in seiner Show gewissermaßen permanent und ironisch anspielungsreich präsent. Wusste man damals, dass er sich an der Ostfront vier erfrorene Zehen selbst entfernt hatte? Jetzt weiß man es – und sieht ihn humpeln. Ganz anders der menschenfreundliche Holocaust-Überlebende Hans Rosenthal, der gleich nach dem Krieg Lessings „Nathan der Weise“ als Hörspiel realisiert, gewissermaßen um Menschlichkeit und Toleranz in West-Deutschland zu implantieren. Seine Geschichte vom Überleben als Jude in Berlin wurde schon früh und besonders gern von der Springer-Presse kolportiert. Auch hier hat Schilling Material entdeckt, das Rosenthals Ethos deutlich aufscheinen lässt. Und auch Peter Alexander arbeitete nicht nur am Soundtrack des Wirtschaftswunders, sondern trug schwer an Kriegserinnerungen.
Sieht man „Kulenkampffs Schuhe“, fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Hier unterhält sich eine Generation von Kriegsversehrten über den Krieg mittels eines Codes, den die Kinder nicht verstehen konnten. Das geht über die Gameshows weit hinaus, wenn „Persil“ damit wirbt, einem schwarzen Pinguin eine weiße Weste zu besorgen oder das „HB-Männchen“ wieder einmal von den Anforderungen des Alltags kapituliert. Einmal fragt die Filmemacherin aus dem Off, ob sich die Männer, wenn sie unter sich waren, wohl über Einsatzorte, Waffenarten oder Gefangenenlager ausgetauscht hätten?
Dass man voneinander nicht wusste oder wissen wollte, war auch ein Schmiermittel fürs Wirtschaftswunder. In Kulenkampffs „Einer wird gewinnen“ gab es Martin Jente als Butler, der die Show auch produzierte. Erst nach dessen Tod stellte sich heraus, dass Jente 1933 in die SS eingetreten war, es bis zum Adjutanten im Führerhauptquartier gebracht und alle Devotionalien und Geheimnisse jener Zeit sorgsam gehütet hatte. Auch persönliche Neujahrsgrüße vom „Führer“ höchst persönlich. Wie mag Kulenkampffs böser Defätismus in seinen Ohren geklungen haben?
Für Regina Schilling endete die glückliche Fernsehkindheit am 9. November 1978. An diesem Tag wurde in der Bundesrepublik erstmals der Reichspogromnacht 1938 gedacht. Gleichzeitig war eine Folge „Dalli Dalli“ angesetzt. Rosenthal bat um eine Verlegung, die mit Hinweis auf seine Überempfindlichkeit abgelehnt wurde. Der Showmaster fand mit Anstand aus der sensiblen Situation, indem er die sonst eher aufgekratzte Tonart der Sendung herunterdrosselte und eine gewisse Feierlichkeit anstrebte. Im Anschluss strahlte das ZDF dann als Fernsehpremiere „Nacht und Nebel“ (fd 5548) von Alain Resnais aus. Schilling, 16 Jahre alt, hat nicht umgeschaltet, sondern angefangen, sich Fragen zu stellen. Ein paar Antworten hat sie jetzt mit „Kulenkampffs Schuhe“ zusammengezurrt. Und auch ein paar Überraschungen in petto. Oder hätte jemand noch gewusst, dass Rainer Werner Fassbinder einmal einen Auftritt bei „Dalli Dalli“ hatte?
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