Wann begann die Gewalt? Wird sie irgendwann überstanden sein? Sind die Kunst oder gar das Kino in der Lage, der scheinbar endlosen Spirale von Willkür und Ohnmacht etwas entgegenzusetzen? Der aus der Ukraine stammende Regisseur Sergei Loznitsa stellt in allen seinen Spielfilmen und auch in den meisten seiner Dokumentarfilme diese Fragen, ohne sie polemisch auszuformulieren. Vielmehr entwirft er zugespitzte Parabeln, die einen weiten Spielraum für Assoziationen und Wertungen belassen. Wo seine eigenen Sympathien liegen, steht dabei außer Frage – bei den Schwachen nämlich.
Wenn er nach seinem Weltkriegsdrama „Im Nebel“
(fd 41 368) und der in die russische Gegenwart verlegten Dostojewski-Adaption „Die Sanfte“
(fd 45 419) nun ein Werk mit dem Titel „Donbass“ präsentiert, ist klar, dass dies kein russlandfreundlicher Film sein kann. Doch auch ukrainische Patrioten werden sich für dieses mehr als zwei Stunden lange Requiem kaum erwärmen. Zu bitter fällt seine Bilanz einer am Rande des Abgrunds balancierenden, für uns (aus Bequemlichkeit) weitgehend ausgeblendeten europäischen Region aus.
Der meist unter dem euphemistischen Begriff des „Konflikts“ bemäntelte, seit vier Jahren andauernde Krieg reicht in seinen Ursachen so weit zurück und seine Auswirkungen sind derart komplex und verwirrend, dass er auch nach seinem Ende noch Generationen von Historikern beschäftigen wird. Wie also diesem Monstrum künstlerisch beikommen?
Loznitsa hat sich zu einer offenen Struktur entschlossen, die auf jeden Erklärungsapparat verzichtet. Das ist angesichts der all der vielen Kompliziertheiten in dieser Region ein gewagter Schritt, bot sich aber vielleicht als einzige mögliche Lösung an. In 13 Stationen durchläuft der Film das Kriegsgebiet von West nach Ost, zeigt Militärs, Ganoven, Zivilisten und Journalisten, die in einem unheilvollen Reigen miteinander verwoben sind. Die Grenzen zwischen Opfern und Tätern erweisen sich oft als fließend. Von Kontrollposten zu Kontrollosten bewegen sich die Akteure durch eine rechtsfreie Zone wie in einem Spinnennetz. Jederzeit kann sie die Vernichtung treffen.
Für die Darstellung dieser Tragödie setzt der Regisseur nicht auf einen einzelnen Protagonisten, anhand dessen Erlebnissen die Reise mit einem gewissen Erkenntnisgewinn abzuarbeiten wäre. Stattdessen sind die Episoden nur lose miteinander verknüpft. Mal gibt es einzelne überleitende Figuren, die von einer Szene zur nächsten führen, mal sind es Fahrzeuge, die wiederholt auftauchen. Es gibt einen klapprigen Bus aus sowjetischen Zeiten, mit dem die Menschen unterwegs sind. An einem Checkpoint müssen alle männlichen Passagiere aussteigen, in einer Reihe antreten und sich von einer Kommandeuse demütigen lassen. Jede Eskalation scheint möglich. Zum Äußersten kommt es vorerst nicht, da die Posten durch einen anderen Zwischenfall abgelenkt werden. Ein deutscher Journalist (Thorsten Merten) wird aufgegriffen und wüst als „Faschist“ beschimpft. Wenig später sieht man ihn bei der Recherche in einem Stützpunkt der Separatisten. Er befragt eine Gruppe von Kämpfern, wer denn eigentlich ihr Befehlshaber sei – und erntet dafür herzliches Gelächter. Während ein hoher, offenbar russischer Offizier hinter den Kulissen verschwindet, wird ihm ein abenteuerlich kostümierter Mann mit der typischen „Papapcha“-Kosakenmütze als Anführer präsentiert.
Der sowjetische Bus taucht am Ende des Films wieder auf, zerfetzt von den Einschlägen der Katjuscha-Raketen. Das letzte Wort haben immer die Waffen. Auch wenn immer unklarer wird, wer hier eigentlich auf wen und warum schießt.
„Das Sujet ist unvorstellbar und trotzdem real, es existiert tatsächlich, lebt neben uns“, zitiert der Filmemacher in einem Kommentar den Dichter Warlam Schalamow. Dieser verbrachte fast 20 Jahre seines Lebens in sowjetischen Straflagern. Was Loznitza umtreibt, ist die Gegenwart der Vergangenheit, die Frage, ob der „Homo sovieticus“ (Alexander Sinowjew) jemals überwunden werden kann. In den meisten Kapiteln gelingt ihm bei dieser Grübelei eine fast schon elegante Gratwanderung zwischen Farce und Tragödie. Im eindringlichsten Segment schraubt sich das Geschehen sogar zum kaum mehr erträglichen Martyrium hoch: ein gefangener ukrainischer Freiwilliger wird in einer Kleinstadt mit einem Schild um den Hals an eine Laterne gestellt und den Aggressionen der aufgebrachten Bürger ausgesetzt. Im letzten Moment vor seiner Ermordung schreiten seine Bewacher ein und bringen den Mann fort. Der Lynch-Mob eilt hinterher. Es gibt in dieser Masse nur eine einzige Person, die sich gegen den Strom bewegt.