Den Spagat zwischen zwei Welten beherrscht ein aus Pakistan stammendes und in Norwegen lebendes 15-jähriges Mädchen nur allzu gut. Zuhause ist sie die traditionsbewusste Tochter pakistanischer Einwanderer, in ihrem Freundeskreis eine norwegische Jugendliche. Als ihr Vater sie in ihrem Zimmer mit einem Jungen antrifft, stürzt ihr sorgsam gepflegtes Doppelleben zusammen. Um die vermeintlich verletzte Ehre der Familie wiederherzustellen, greifen die Eltern zu drastischen Maßnahmen. Ergreifend und schockierend zugleich zeichnet das intensive Drama ein fatalistisches Szenario aus Familienehre, Wertkonservatismus und dem Selbstbestimmungswillen junger Menschen.
- Sehenswert ab 16.
Was werden die Leute sagen
Drama | Norwegen/Deutschland/Schweden 2017 | 107 Minuten
Regie: Iram Haq
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Filmdaten
- Originaltitel
- HVA VIL FOLK SI
- Produktionsland
- Norwegen/Deutschland/Schweden
- Produktionsjahr
- 2017
- Produktionsfirma
- Mer Film/Rohfilm Factory/Zentropa/Beta Cinema
- Regie
- Iram Haq
- Buch
- Iram Haq
- Kamera
- Nadim Carlsen
- Musik
- Lorenz Dangel · Martin Pedersen
- Schnitt
- Janus Billeskov Jansen · Anne Østerud
- Darsteller
- Maria Mozhdah (Nisha) · Adil Hussain (Mirza) · Rohit Saraf (Amir) · Ekavali Khanna (Mutter) · Ali Arfan (Asif)
- Länge
- 107 Minuten
- Kinostart
- 10.05.2018
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Ein intensives Drama um eine junge Norwegerin mit pakistanischen Wurzeln, deren Lebensstil sie in Konflikt mit ihrer wertkonservativen Familie bringt.
Diskussion
Während der Vater wie jeden Abend die Lichter in der Wohnung löscht und die Vorhänge zuzieht, rast die Tochter durch die nächtlichen Straßen. Gerade noch rechtzeitig, kurz bevor der Vater seinen Blick über die schlafenden Kinder streifen lässt, steigt Nisha über den Balkon in ihr Zimmer und schlüpft unter die Bettdecke. Einmal mehr hat sie den Wettlauf gewonnen und den Anschein des Gehorsams gewahrt.
Die als Parallelmontage präsentierte Anfangssequenz zeigt, wie ein Teenager klassischerweise die Eltern und deren Regeln austrickst. In dem Film der norwegischen Regisseurin Iram Haq steht die Szene aber auch für zwei gegenläufige Welten. In der einen ist Nisha ein traditionsbewusstes pakistanisches Mädchen und der Stolz ihrer Eltern, die einst nach Norwegen kamen, um ihren Kindern die beste Ausbildung zu ermöglichen. In der anderen Welt ist Nisha ebenfalls gut in der Schule, freundlich und aufgeschlossen. Hier ist sie aber vor allem eine Europäerin, die mit ihren Freunden den Alltag norwegischer Jugendlicher teilt. Sie ziehen zusammen um die Häuser, feiern und probieren vom ersten Joint bis zum ersten Kuss, wie das Leben schmeckt.
Wie wenig Freunde und Freizeit mit den Werten und Traditionen ihrer Familie zusammenpassen, wird erst deutlich, als die eine Welt plötzlich in die andere einbricht. Nisha hat heimlich Besuch von einem Jungen. Die beiden werden vom Vater erwischt. Dass er ausrastet und auf die beiden einprügelt, bis ein Nachbar das Jugendamt alarmiert, ist aber nur die erste Stufe der Eskalation. Schrittweise begibt sich der Film „Was werden die Leute sagen“ auf den Fersen seiner jungen Protagonistin immer tiefer hinein in ein Gefängnis aus patriarchalischen Strukturen, Familienehre und Gewalt, in dem Opfer wie Täter festsitzen.
Die Stationen, die Nisha durchleiden muss, um ihre vermeintlich verletzte Ehre wiederherzustellen, sind freiheitsberaubend, erniedrigend und brutal. Die Regisseurin verarbeitet im Plot autobiografische Erfahrungen zu einer fiktionalen Geschichte, die offen anklagt, was manchen Immigrantinnen widerfährt, sofern sie auch nur unter den Verdacht geraten, den Ehrenkodex ihrer konservativen Community verletzt zu haben.
Iram Haq inszeniert die groben Ereignisse jedoch mit Feingefühl und Raum für Details und schafft es auf diese Weise, das Klischeebild einer erzkonservativen Gemeinschaft, in der nur Schwarz oder Weiß zu existieren scheinen, um einige Grautöne abzustufen.
Es sind im Wesentlichen die beiden Hauptfiguren und ihre Darsteller, die der vorgezeichneten Handlung eine Schraffur verleihen. Maria Mozhdah liefert als Nisha ein überzeugendes Kinodebüt. Zerbrechlich und zäh zugleich spiegeln sich die inneren Konflikte und Verletzungen der Figur in ihrer Mimik und im ganzen Körper. Oft sind es kleine Gesten, ein nervöses Zittern, ein verstohlener Händedruck, widerspenstiges Teigkneten oder die Mechanisierung von Handgriffen, die Aufschluss über Nishas seelischen Zustand geben und den Ausbruchsversuchen vorausgehen. In der Rolle des Vaters spielt Adil Hussain hingegen wie versteinert. Er steckt im Korsett seiner kulturellen Herkunft fest, die ihm keinerlei Handlungsalternativen bietet. Was in ihm angesichts des Verlusts seiner geliebten Tochter vorgeht, lassen bloß seine Blicke vermuten, die mal lang und intensiv, mal starr und abgewandt sind.
Die extremen Reaktionen der Familie auf Nishas Vergehen, die in Wahrheit keine sind, bleiben indes unbegreiflich. Das Publikum sieht nur, was Nisha wahrnimmt: den plötzlichen Liebesentzug der Eltern, die Unverhältnismäßigkeit der Strafen, die vollkommende Wehrlosigkeit, der Hass aller erwachsenen Bezugspersonen. All dies können weder Nisha noch Außenstehende verstehen. Insofern ist der Film mit dem programmatischen Titel „Was werden die Leute sagen“ ein Schock. Er nimmt einen wie Nisha in den Würgegriff und lotet das Dilemma von Vater und Tochter ausgiebig aus. Allerdings wirft dieses Vorgehen die Frage auf, ob der Film auf diese Weise vor allem aufklärt oder doch eher bestehende Klischees und Vorurteile bestärkt. Die Antwort liegt bei den Zuschauern.
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