Stadt ohne Juden
Drama | Österreich 1924 | 87 (restauriert, früher auch: 75) Minuten
Regie: Hans Karl Breslauer
Filmdaten
- Originaltitel
- STADT OHNE JUDEN
- Produktionsland
- Österreich
- Produktionsjahr
- 1924
- Produktionsfirma
- H.K. Breslauer-Film
- Regie
- Hans Karl Breslauer
- Buch
- Hans Karl Breslauer · Ida Jenbach
- Kamera
- Hugo Eywo
- Musik
- Joachim Bärenz · Olga Neuwirth
- Darsteller
- Hans Moser (Rat Bernart) · Johannes Riemann (Leo Strakosch) · Karl Thema (Rat Linder) · Eugen Neufeld (Bundeskanzler) · Anny Miletty (Lotte Linder)
- Länge
- 87 (restauriert, früher auch: 75) Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung | Stummfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Hans Karl Breslauers Produktion ist in den einschlägigen Filmgeschichtsschreibungen nicht erwähnt – trotz ihrer inhaltlichen, schauspielerischen wie ästhetischen Qualitäten. Die mit technischen Problemen behaftete Wiener Premiere am 25. Juli 1924 führte zu mangelhaften Verleihkopien und (Zensur-)Schnitten durch Kinobetreiber. Die Kritik reagierte verhalten, Nazis torpedierten Vorführungen mit Stinkbomben, in Linz wurde die Aufführung sogar verboten.
Dem Film „Die Stadt ohne Juden“ liegt der gleichnamige, 1922 erschienene Roman von Hugo Bettauer zugrunde. Der Autor entstammte einer gutsituierten jüdischen Familie und konvertierte früh zum Protestantismus. Dem sogenannten „roten Wien“ zugerechnet, schrieb Bettauer auch die Romanvorlage zu G.W. Pabsts „Die freudlose Gasse“ und wurde 1925 von einem Nationalsozialisten ermordet. 1926 in Berlin (um 15% gekürzt) und 1928 in New York fand der Film durchaus Zuspruch. Nach der letztmaligen Vorführung, 1933 in Amsterdam, galt „Die Stadt ohne Juden“ jahrzehntelang als verschollen.
Über das gesellschaftliche Klima der 1920er, in dem der Antisemitismus gedieh
Regisseur Hans Karl Breslauer richtete die prophetische Satire mit Ida Jenbach für die Leinwand ein. Der vor und nach dem Ersten Weltkrieg ausgelöste gesamtgesellschaftliche Strukturwandel in allen Bevölkerungsschichten traf – nicht nur in Österreich – auf ein leicht beeinflussbares, einfachen Erklärungsversuchen zugewandtes Publikum. Die wirtschaftliche und geistige Verarmung begünstigte neben Zukunftsängsten das Aufkeimen des jahrhundertealten, latenten Antisemitismus.
Zwar fehlt der Filmadaption der konkrete Verweis auf den Schmelztiegel Wien; im Unterschied zum Roman verlegt sie die Geschichte in die fiktive Republik Utopia, jedoch mit unübersehbaren Parallelen zum Wien der 1920er-Jahre. Während die jüdische Gemeinde in der Synagoge ihre Riten pflegt, gärt es in der von Inflation, Arbeitslosigkeit und Verlustgefühl gezeichneten Bevölkerung. Bundeskanzler Schwerdtfeger (Eugen Neufeld) nutzt den Protest der Straße und den Streit im Parlament, um die Juden als Verursacher der Krise zu brandmarken. Sein Plädoyer wird Gesetz: Vertreibung der geschäftstüchtigen, im Banken- und Kultursektor erfolgreichen jüdischen Mitbürger bis zum 25. Dezember, inklusive Vermögenseinzug, sofern bei der Steuer nicht angegeben.
Der Exodus der assimilierten, bildungsbürgerlichen Juden führt zu einem menschlichen wie gesellschaftlichen Fiasko. Der Boykott des Auslandes, schwindende Finanzierungsoptionen, der wirtschaftlich-kulturelle Niedergang, der Verlust von (städtischer) Lebensqualität und Eleganz bringen die Bevölkerung gegen die kurzsichtigen Maßnahmen und Parolen der deutschnationalen, christlich-sozialen „Volksvertreter“ auf. Die Liebe zwischen Lotte (Anny Milety), Tochter eines gemäßigten Parlamentariers, und dem kultivierten Juden Leo (Johannes Riemann), der getarnt als Kunstmaler (!) aus Paris zurückkehrt, sorgt für romantische Zwischentöne.
Propagandistische Reibeflächen
Leos Plakataufrufe im Namen des Bundes „wahrhaftiger Christen“ bringen die Menschen zur Besinnung. Und mit einem Trick – der antisemitische Rat Bernart (Hans Moser) verpasst durch Trunkenheit die Parlamentsabstimmung – bringt er das Judengesetz zu Fall. Die Heirat zwischen der Christin und dem Juden unterstreicht den Versöhnungsgedanken. Während Bernart im Irrenhaus landet, begrüßt Utopias Bürgermeister den ersten jüdischen Rückkehrer und beschwört die friedliche Koexistenz.
Trotz seiner unverkennbar kritischen Haltung ermöglicht der Film auch ambivalente, antijüdische Interpretationsansätze. Die konsequente Differenzierung zwischen armen und arrivierten Juden hinsichtlich Körpergröße, -sprache und Kleidung schließt klischeehafte Charakterisierungen nicht aus. Vorwürfe mangelnder Ausgewogenheit könnte zudem die völkisch-dumpfe Atmosphäre im Zeichen des Judengesetzes auslösen. Doch leben die Geschichte und das emotionale Montagekonzept gerade von diesen kontrastierenden Stereotypen.
Die in der aktuellen Rekonstruktion beeindruckende Szene eines Synagogenzeremoniells, die Szenen mit den Spekulanten, vergnügungssüchtigen Schiebern, das Auftreten der Bauchladenhändler im Wirtshaus, das Mobbing auf der Straße und insbesondere die detaillierte Inszenierung der Vertreibung sprechen gegen eine „antisemitische Bildsprache“ des als Zeitdokument zu beurteilenden Films. Der Vergleich mit der 2000 vom Filmarchiv Austria publizierten Fassung, die eine unterschiedlich akzentuierte Musik aufweist, zeigt größere und kleine Abweichungen: Jüdische Bräuche und Lebensart, Markt- und Massenszenen kommen nun ausführlicher, stringenter zum Ausdruck. Die neue Rekonstruktion gibt dem Humor, der Wiener Burleske ihr Gewicht, ihre subversive Präsenz zurück. Auch die Zwischentitel stehen durchweg länger.
In der alten Fassung erwacht der Alkoholiker Bernart im Wirtshaus aus einem Traum, der die ganze Geschichte (vergleichbar der Rahmenhandlung in Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“) als Hirngespenst deklariert: „Gottlob, dass der dumme Traum vorbei ist – wir sind ja alle nur Menschen und wollen keinen Hass. Leben wollen wir, ruhig nebeneinander leben.“ Im Irrenhaus findet er sich in einer klaustrophobischen, mit expressionistischem Dekor verfremdeten Zelle wieder, bedroht von Davidsternen.
Ein Paradebeispiel für die lückenhafte Überlieferung der Stummfilmära
Der Film ist ein Paradebeispiel für die lückenhafte Überlieferung, die Auswertungs- und Vorführpraxis sowie die Rezeptionssituation in der Stummfilmära. Erst eine 1991 im Amsterdamer Eye Filmmuseum wiederentdeckte, unvollständige Kopie aus den 1930er-Jahren leitete die Renaissance des Films ein. Das Bundesarchiv/Filmarchiv in Koblenz restaurierte eine davon gefertigte Sicherungskopie im Auftrag des Filmarchivs Austria. Der Zufallsfund einer nahezu kompletten Nitrokopie 2015 in Paris ermöglichte schließlich dem österreichischen Archiv eine grundlegende Rekonstruktion – einschließlich Viragierung. Aber auch in diesem Fragment fehlen noch etwa zwölf Minuten des Originals! Der Fernsehsender arte strahlte die mit einer neuen Musik von Olga Neuwirth versehene Fassung 2019 aus. Verdienstvollerweise publiziert absolutMEDIEN nun das Werk auf DVD und Blu-ray.
Mit Olga Neuwirths Musik – eingespielt vom Ensemble Intercontemporain unter Dirigent Matthias Pintscher – klingt die Neurekonstruktion oft sphärisch, unnahbar und künstlich, mit einem Hang zum Experimentellen. Die Verfremdung durch Geräusche, Stimmen, Volksliedphrasen passt gut zur Dynamik der Ausweisung, zum Leid der Juden. Die frühere Einspielung setzt auf eine klare, vertraute Stummfilmbegleitung. Jene gefälligere, traditionellere Dramaturgie unterstützt die versöhnlichere, weniger drastische Aussage des Films, macht sie für ein größeres Publikum goutierbarer. Olga Neuwirths Ansatz orientiert sich dagegen an der stärker herausgearbeiteten jüdischen Lebens- und Leidenswelt, plädiert für kritische Distanz, wählt eine heutige, moralische „Wertung“ der Geschichte. Und verzichtet damit bewusst auf eine allzu glatte, oberflächliche Einheit von Bild und Ton.
Die Laufzeit beträgt 87 Minuten. Die Edition begleitet ein Booklet mit sehr lesenswerten Texten von Elfriede Jelinek und Olga Neuwirth. Einziger Wermutstropfen: der Verzicht auf die Beigabe der alten Fassung zum Vergleich.