Die Liedermacherin Angi Domdey schrieb in den 1970er-Jahren den Song „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ und bezog sich damit auf einen Slogan der französischen Studentenrevolte. Das Lied feierte die schöpferische Fantasie als Kraft, starre Verhältnisse aufzuweichen, bei sich zu bleiben und nicht vom Alltag vereinnahmen zu lassen. Solche Gedanken könnten für den Film „In den Gängen“ Pate gestanden haben. Denn auch hier entpuppt sich die Fähigkeit, in den Dingen etwas über sie Hinausweisendes zu entdecken und sie damit nicht nur zu transzendieren, sondern auch zu ästhetisieren, als Quelle der Emanzipation. Zugleich handelt es sich dabei um eine höchst sinnliche Qualität, die zauberhaft transportiert wird. Das Objekt, durch das diese Idee Gestalt annimmt, ist ein profanes Transportfahrzeug. In dem von Regisseur Thomas Stuber und dem Schriftsteller Clemens Meyer geschaffenen Kosmos spielt ein Gabelstapler den vierten Protagonisten.
Mit ihm hat Christian zu kämpfen, als er nach einer Jugendstrafe in einem ostdeutschen Großmarkt zu arbeiten beginnt. Doch die Kollegen unterstützen ihn; ganz selbstverständlich und gelassen machen sie sich ans Werk, in der Geisteshaltung eines (post-)sozialistischen Kollektivs. Zum Feierabend wird jedem zum Abschied die Hand geschüttelt, eine Wertschätzung, über die man staunen mag. Bruno, der für die Getränkeabteilung zuständig ist, nimmt den Neuling unter seine Fittiche und übt mit ihm auch die Bedienung des Gabelstaplers ein.
Mit einem anderen Stapler braust Marion durch die Gänge, die in der Süßwarenabteilung arbeitet. Christians Auge fällt sofort auf sie. Auch wenn Marion über den „Frischling“ ein wenig spöttelt und ihn einzuschüchtern versucht, ist klar, dass auch sie den Neuen ins Herz geschlossen hat. Doch die beiden können nicht zueinanderkommen, denn Marion ist verheiratet
Drei Kapitel, drei Protagonisten
„In den Gängen“ ist mehr als eine subtile Liebesgeschichte. Der Film erzählt auch vom väterlich-besorgten Freundschaftsverhältnis zwischen Christian und dem älteren Bruno, der zu DDR-Zeiten als Fernfahrer unterwegs war. Nicht von ungefähr ist der Film in drei Kapitel geteilt, versehen mit den Namen der drei Protagonisten. Vor allem aber beantwortet die ästhetisch reflektierte Inszenierung die Frage, wie sich einem gewöhnlichen Arbeitstag atmosphärischer Zauber und sogar Anmut abgewinnen lässt. Denn die Protagonisten verrichten Tag für Tag die immer gleichen Handgriffe: Paletten müssen geholt, gestapelt und entladen, Regale befüllt und abgelaufene Waren wieder ausgeräumt werden.
Der Film will der Schönheit in der Arbeitswelt nachspüren und die Arbeiter auf entsprechende Weise modellieren. Dabei setzt er immer wieder auf die rhythmische Bewegung im Raum, gespiegelt in der Beziehung von Christian und Marion; sie geht auf ihn zu, entfernt sich, kommt wieder zu ihm zurück.
Schon in der Exposition, wenn der Markt noch verlassen daliegt, choreografiert der Film zu den Klängen von Johann Strauß’ „An der schönen blauen Donau“ in Anspielung an „2001: Odyssee im Weltraum“ durch den Schnitt und die Fahrten des Gabelstaplers ein harmonisches Schwingen dieses Ortes, ungeachtet aller privaten Misslichkeiten der Figuren. Entgegen allen Klischees arbeitet die Inszenierung heraus, wie Christian und Marion ihr Begehren, das an moralische Grenzen stößt, sublimieren. Trotzdem festigt sich ihre Beziehung und gewinnt an Tiefe. Da sie ihre Sinne beisammen und Fantasie haben, können sie die ästhetischen Momente ihres Alltags gemeinsam genießen. Über ihre feinsinnigen Gesten entsteht ein geistiges Band, eine gemeinsam geteilte Welt.
Ein poetisierter Arbeitsplatz
Eine solche Nähe wird in der medialen Realität der Talkshow- und Therapiekultur zumeist zugelärmt. Die hier fiktiv erschaffene Welt respektiert die Stille der Ellipse. Hier entblößt man sich in Gesprächen keineswegs bis unter die Haut. Die Dialoge sind lakonisch, geben an der Oberfläche wenig vom Eigenen preis, bleiben immer ein wenig distanziert, trocken oder leicht ironisch. Wenn Marion andererseits auf Christians Gabelstapler springt und ihm die Augen respektive die Ohren öffnet, dass nämlich die Bewegung der Gabel einen Klang wie das Rauschen des Ozeans erzeugt, dann weiß sie von jenem Rauschen des Begehrens, das die beiden schon immer verbindet. Die Tonspur hat es längst enthüllt.
Mit ihrer Darstellung spannen Thomas Stuber und Clemens Meyer überdies einen nostalgischen Bogen zurück in die DDR, zum staatlichen Kunstprogramm Ende der 1950er-Jahre. Der so genannte Bitterfelder Weg wollte die Hochkunst und Arbeiterklasse versöhnen, deren Bedürfnisse und Geschmack verfeinern. Bei Stuber und Meyer spielt jedoch auch ein romantischer Zug mit hinein, wenn sie den Arbeitsplatz im Sinne des Dichters Novalis poetisieren.