Als Justine nach einem Unfall den abgetrennten Finger ihrer Schwester in der Hand hält, geschieht etwas Seltsames: Sie spürt eine ganz und gar irritierende Lust in sich. Sie leckt den Finger ab. Sie beißt hinein. Sie isst ihn auf. Irgendetwas stimmt nicht mit der 16-Jährigen, die sich zu Beginn ihrer Ausbildung zur Tierärztin befindet und aufs Übelste von älteren Semestern gedemütigt wird. Rohe Kaninchenniere musse sie essen. Obwohl sie doch von ihrer Mutter zur strengen Vegetarierin erzogen wurde. Die Sache mit dem Finger bringt Justines Gefühlshaushalt vollständig durcheinander. Und bald kommt sie nicht mehr umhin, sich einzugestehen, dass ihr Körper dieses Menschenfleisch geradezu braucht. „Raw“ hat einen Ruf zu erfüllen: Dem Horrorfilm von Julia Ducournau eilen von Festivalaufführungen Schlagzeilen voraus, die über Notarzteinsätze bei Vorführungen und von Übelkeit geplagte Kinobesucher berichten. Aber ein einschlägiges Splatter-Publikum dürfte von „Raw“ enttäuscht sein, erweist sich der Film doch als zwar manchmal provozierende, aber intelligente Coming-of-Age-Geschichte im Gewand eines Horrorfilms. Atmosphärisch und ruhig erzählt, zieht der Film in den Bann und bleibt immer nahe bei seiner jugendlichen Protagonistin, die sich in ihrem Körper nicht mehr auskennt und mit ihren dunklen Seiten konfrontiert wird. Sie fühlt sich zu Menschenfleisch hingezogen, aber auch zu menschlichen Körpern und zu Sex. Eine ganz neue Welt öffnet sich für Justine, die sie verunsichert und ihr Angst macht, aber auch eine neue Energie in ihr weckt. Auf seine ruppige Art erzählt „Raw“ über nichts anderes als über den schwierigen Weg ins Erwachsenenleben.