Historienfilm | Deutschland 2016-2022 | 720 Minuten

Regie: Henk Handloegten

Das Berlin der Weimarer Republik ist eine brodelnde Metropole der extremen Spannungen und Gegensätze, wobei Rausch und Glamour, Musik, Kunst und Kultur auf Arbeitslosigkeit und tiefe Armut, politischen Extremismus und die perfiden Netzwerke rücksichtsloser Verbrecher prallen. Ein junger Polizeikommissar kommt in Staffel 1 1929 von Köln nach Berlin, um einen Erpressungsfall in einem Pornoring zu untersuchen, wobei der kriegstraumatisierte Ermittler in ein kaum durchdringbares Chaos aus Korruption, Prostitution und Waffenhandel gerät und die Wirrnisse der Zeit, etwa der sogenannte "Blutmai", Berlin in Aufruhr versetzen. In Staffel 2 kommt der Kommissar über Ermittlungen in Kontakt mit dem Berliner Leiter der Preußischen Geheimpolizei, der verfassungsfeindliche Tätigkeiten der "Schwarzen Reichswehr" zu beweisen sucht, und unterstützt ihn. Die dritte Staffel dreht sich um eine rätselhafte Mordserie im Filmmilieu, führt aber auch vorherige Erzählfäden geschickt weiter. Die vierte Staffel zeigt den weiter wachsenden Einfluss des Nationalsozialismus und behandelt mysteriöse Morde im Umkreis der organisierten Kriminalität sowie einen amerikanischen Gangster auf der Suche nach einem Edelstein, der seiner Familie gestohlen wurde. Aufwändig ausgestattete, fulminant inszenierte und brillant gespielte Krimiserie als ebenso komplex wie süffig-spannend erzähltes Sittengemälde des Berlins der späten 1920er-Jahre. Das beeindruckende Zeitbild einer Epoche verknüpft die sozialen Themen des historischen Stoffs mit deutlichen Verbindungen zwischen Gestern und Heute. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2016-2022
Produktionsfirma
X-Filme Creative Pool/ARD Degeto/Beta/Sky
Regie
Henk Handloegten · Tom Tykwer · Achim von Borries
Buch
Henk Handloegten · Tom Tykwer · Achim von Borries · Volker Kutscher
Kamera
Bernd Fischer · Frank Griebe · Philipp Haberlandt
Musik
Tom Tykwer · Johnny Klimek
Schnitt
Alexander Berner · Claus Wehlisch · Antje Zynga
Darsteller
Volker Bruch (Gereon Rath) · Liv Lisa Fries (Charlotte Ritter) · Peter Kurth (Bruno Wolter) · Leonie Benesch (Greta) · Waléra Kanischtscheff (Fallin)
Länge
720 Minuten
Kinostart
20.09.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Historienfilm | Krimi | Literaturverfilmung

Heimkino

Verleih DVD
Leonine
Verleih Blu-ray
Leonine
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Selten wurden hoch gesteckte Erwartungen so eindrucksvoll eingelöst: Die aufwändige Krimiserie „Babylon Berlin“ fasziniert als spannend-süffiges Genre-„Kino“, aber auch als raffiniert-komplexes Sittenbild einer Epoche.

Diskussion

Staffel 1 & 2

„Zwischen Glück und Qual… Du bist dem Tod so nah“, singt die androgyne Nikoros zur suggestiven Musik auf der Bühne des legendären Tanztempels „Moka Efti“, ganz als ahne sie bereits, was der Spaßgesellschaft, die zuckend tanzend vor ihr steht, ein paar Jahre später blühen wird, wenn es im Gleichschritt in den nationalsozialistischen Todeskult geht. Dieser furiose Tanz auf dem Vulkan ist als abschließender Höhepunkt der ersten Doppelfolge von „Babylon Berlin“ symptomatisch für die Ästhetik und Konzeption der Serie – im Allgemeinen und im Umgang mit Geschichte. Einen Song komplett durchlaufen zu lassen und den Rhythmus und die Stimmung der Musik vor allem auf die Montage einwirken zu lassen, ist durch eine neue Serienkultur möglich gemacht worden, die sich dafür die Zeit nimmt. Nikoros verkörpert hier die zum Mythos gewordene Performativität von Gender in der Weimarer Republik und weist zugleich die Star-Aura einer Lady Gaga auf. In ihrer Bombastik und ihrem apokalyptischen Fatalismus erinnert die Performance zudem an Rammstein, womit abermals die Brücke zwischen Gestern und Heute mit Blick auf Bilder faschistischer Popästhetik gebaut wird.

Für Achim von Borries ist Berlin die Hauptfigur der Serie. Gemeinsam mit Tom Tykwer und Henk Handloegten hat er die Drehbücher geschrieben und Regie geführt. Von den aktuellen Konventionen des Serienmachens abweichend, haben sie alle Episoden gemeinsam geschrieben und inszeniert. Auch die Editoren haben an allen Episoden kollaborativ gearbeitet (siehe Interview). Vielleicht ist es diese Methode, die aus „Babylon Berlin“ ein komplex erzähltes Sittengemälde des Berlin der späten 1920er-Jahre gemacht hat und durchaus mit Rainer Werner Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ (1979/80) kontextualisiert werden kann, einer Wegemarke der deutschen Serienproduktion, in der Berlin ebenfalls den Status einer Hauptfigur aufweist. Auf Alfred Döblins 1929 erschienenem Roman basierend, erzählt sie von Franz Biberkopf, der 1928 nach vier Jahren Haft aus dem Gefängnis kommt, mit der Absicht ein guter Mensch zu werden. Doch die Stadt hält nur Arbeitslosigkeit und Schäbigkeit für ihn bereit, treibt ihn immerfort in die Fänge der Kriminalität.

Parallelen zur Gegenwart

In „Babylon Berlin“ kommt der Kommissar Gereon Rath aus Köln nach Berlin, wo er – zunächst in einem einfachen Erpressungsfall ermittelnd – immer tiefer in die kriminellen Schattenseiten dieser Gesellschaft des Spektakels eintaucht. So wie „Berlin Alexanderplatz“ soziale Themen der Entstehungszeit mit einem historischen Stoff verarbeitete, so weist auch „Babylon Berlin“ deutliche Verbindungen zwischen Gestern und Heute auf. Das betrifft nicht nur die oben erwähnte Inszenierung im „Moka Efti“, sondern auch die Parallelen politischer und sozialer Art: Berlin erscheint heute vielen als Party-Stadt, in der alles nur Erdenkliche konsumiert werden kann, während sie gleichzeitig als Hauptstadt des Verbrechens gilt und Neonazis als Abgeordnete in den Bundestag einziehen.

Parallelen zwischen „Berlin Alexanderplatz“ und „Babylon Berlin“ zeigen sich auch im Anspruch, neue Wege der Fernsehproduktion zu gehen. Im Fall von „Babylon Berlin“ ist mit Sprüchen wie „Aufbruch in eine neue Ära der TV-Produktion“ des Produzenten Stefan Arndt indes Vorsicht geboten. „Babylon Berlin“ ist großes Kino, aber anspruchsvolle Serienunterhaltung muss nicht notwendigerweise 40 Millionen Euro kosten. Thomas Klein

Staffel 3

Vorhang auf für den dritten Akt des aktuellen deutschen Staatsschauspiels! Nach gut zwei Jahren Wartezeit setzt der Bezahlsender Sky seit 24. Januar 2020 die filmische Saga des Showrunner-Trios Tom Tykwer, Achim von Borries und Hendrik Handloetgen um Kommissar Gereon Rath (Volker Bruch) und die Kriminalassistentin Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries) im Berlin der späten 1920er-Jahre fort, und zwar erneut als recht freie Adaption von Volker Kutschers Erfolgsromanen – hier „Der stumme Tod“ von 2009.

Die dritte Staffel setzt im Sommer/Herbst des Jahres 1929 ein, zeitlich unmittelbar nach den Ereignissen aus Staffel 1 und 2, also dem sogenannten „Blutmai“, der mit revolutionsähnlichen Unruhen der KPD-nahen Arbeiterschaft und dem harschen Einschreiten der Berliner Polizeikräfte einen Handlungsschwerpunkt bildete (Staffel 1), zusammen mit den Umtrieben der Schwarzen Reichswehr, die auf allen Schlachtfeldern (dem politischen, gesellschaftlichen und heimlich auch dem militärischen) die Weimarer Republik und ihre Repräsentanten zu unterminieren versucht, bis hin zum Attentat auf den Leiter der politischen Polizei August Benda (Matthias Brandt) (Staffel 2). In der finalen Folge war auch die bange Frage um das Schicksal von Charlotte Ritter und ihrer weiteren Zukunft gelöst und der Erzählfaden um die russische Emigrantensippe Sorokin und ihren legendären Goldzug zu einem halbwegs schlüssigen Ende geführt worden, inklusive der endgültigen Konfrontation Gereon Raths mit seinem zwielichtigen Kollegen Wolter (Peter Kurth) – nahezu in Wildwestmanier.

Eine Mordserie im Filmmilieu

Staffel 3 verlagert und ergänzt diese Handlungsstränge um Ermittlungen in einer rätselhaften Mordserie im Filmmilieu, am Rande der Dreharbeiten für eine musikalische Revue, als deren Hintermänner und Finanziers „der Armenier“ (Misel Maticevic) und sein „Partner in Crime“ Walter Weintraub (Ronald Zehrfeld) auf den Plan treten. Anstelle des beliebten Hotspots „Moka Efti“ (Wasserschaden, wohl Sabotage) bekommt man nun tiefere Einblicke in Produktionsweise und Ausstattung bei der „Universal Film AG“ (Ufa) – ein Staat im Staate und Spiegelbild der herrschenden Konflikte auf „Babels Berg“ sozusagen. In diesen Szenen, aber auch insgesamt fällt einmal mehr die gediegene Qualität von Setdesign und Lichtregie ins Auge: das Grafisch-Ornamentale zwischen Bauhaus und Art déco. Weniger prominent ist der Soundtrack, der den Geschehnissen dezenter unterlegt ist, obwohl angesichts der heraufbeschworenen Zeit stilistisch manches möglich gewesen wäre.

Eine exzentrische Figur wie der okkultistische Mime Tristan Rot (Sabin Tambrea) scheint 1929 bereits etwas aus der Zeit gefallen zu sein; derlei gehört zeitlich wohl eher in die Epoche unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg.

In vielerlei Hinsicht illustriert die Serie eine historische Wendezeit: Die „Goldenen Zwanziger“ gehen zur Neige; politisch zieht Düsteres herauf. Gleichzeitig ist dies aber auch eine Ära technischer Innovationen und (im Nachhinein trügerischer) gesellschaftlicher Emanzipationsmöglichkeiten. 1929 war das Jahr des ersten deutschen Tonfilms („Ich küsse Ihre Hand, Madame“ mit Marlene Dietrich), der ersten „Oscar“-Verleihung (an den deutschen Schauspieler Emil Jannings), der Publikation von „Berlin Alexanderplatz“ (Alfred Döblin) und des Nobelpreises für Thomas Mann. 1929 war aber auch das Jahr, das den Beginn der Weltwirtschaftskrise erlebte und mit dem Tod des Reichsaußenministers Gustav Stresemann auch den Anfang vom Ende der gemäßigten deutschen internationalen Politik markierte.

Ein formidables, vielschichtiges Zeitbild

Die Disparatheit dieses historischen Horizonts fängt die dritte Staffel von „Babylon Berlin“ trefflich ein. Ihre zeitliche Verortung macht sie durch stimmige Verweise auf Zeitgenössisches, historische Personen wie Sachverhalte glaubwürdig. Es ist überhaupt eine Stärke der Serie, der Darstellung der damaligen Kriminal- als auch der Filmtechnik in ihren Details viel Raum zu geben. Ein technisches Zeitalter wie jenes kann über die Präsentation seiner Dingwelt (das Zeigen der Werkzeuge sozusagen) auch über die innere Verfasstheit seiner Generation viel aussagen, die im Begriff steht, den Typus eines neuen Homo faber auszubilden.

Dies trifft unbedingt für die Hauptfigur Gereon Rath zu, der – nun ohne sichtbare Zeichen von Kriegstrauma und Drogensucht – oftmals wie sein eigener Astralleib durch die Geschichte geistert: blass, leicht neben sich stehend, ein Beobachter seiner selbst, ganz Mann der Zeit, ein neurotischer Großstadtbewohner, „ohne Eigenschaften“, dabei cool und standhaft unter dem enormen Druck, der auf ihm lastet. Volker Bruch spielt das sehr souverän, mit sparsamem Einsatz schauspielerischer Effekte - und gerade dadurch äußerst glaubhaft.

Charlotte Ritter wiederum dringt tiefer und tiefer in die Mechanismen und Machenschaften der Männerwelt in der „Roten Burg“ ein, dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Trotz etlicher Widrigkeiten gelingt es ihr, sich immer wieder unentbehrlich zu machen und mit der innovativen Qualität ihrer Arbeit zu überzeugen; so schreibt sie sich selbst nachhaltig in diese epische Erzählung hinein. Liv Lisa Fries gibt ihr dabei die richtige Mischung von Toughness und Berliner Humor mit, grundiert manches Mal mit einem Ausdruck existenzieller Traurigkeit und Vereinsamung, der offensichtlich von vergangenen leidvollen Erfahrungen zeugt.

Der Mann der Stunde ist allerdings eine Nebenfigur der vorhergehenden Staffeln, nämlich der rasende Reporter Katelbach (Karl Markovics). Bei ihm, in seinem chaotischen Schreibstübchen bei Frau Behnke (Fritzi Haberlandt), quasi als Ex-WG-Genosse Raths, scheinen alle Fäden zusammenzulaufen, was er auch sichtlich genießt. Katelbach verkörpert den neuartigen Typus des freiberuflichen, unabhängigen Investigativjournalisten, fast ein moderner Whistleblower. Er ist es auch, der die unheilvolle Verflechtung der Schwarzen Reichswehr mit höchsten Wirtschaftskreisen aufspürt und als Scoop ans Magazin „Tempo“ verkaufen möchte (hier hat Martin Wuttke einen leider nur kurzen Auftritt als Chefredakteur), was der „militärisch-industrielle Komplex“ mithilfe der neuen rechten Kräfte aufs Brutalste zu verhindern versucht.

Der rasende Reporter rückt ins Zentrum des Geschehens

Die Figur des Katelbach offenbart darüber hinaus aber auch eine Eigentümlichkeit der dritten Staffel von „Babylon Berlin“, womöglich auch von Kutschers narrativer Technik. Bisher eine Nebenfigur, rückt sie nun ins Zentrum der Geschehnisse, bekommt viel „Screen Time“ und drängt Charaktere, die bis dato eine größere Rolle spielten, ein wenig in den Hintergrund.

Ebenso verhält es sich mit der Figur der unglücklichen Greta Overbeck (Leonie Benesch), deren Schicksal zwar menschlich anrührt, in den ersten Folgen allerdings zur Fortentwicklung der zentralen Handlungslinien scheinbar nur wenig beitrug. Dagegen sieht man (zu) wenig von Alfred Nyssen (Lars Eidinger), der nicht nur eine psychologisch interessante Rolle verkörpert, sondern auch mutmaßlich weit gefasste, schurkische Pläne hegt.

Zu kritisieren wäre also an dieser neuen Staffel – auf hohem Niveau – die Disposition der Handlungsstränge sowie vielleicht das im Vergleich zu den ersten Staffeln deutlich gemäßigtere Erzähltempo, das wohl auch der Verteilung des Stoffes auf zwölf statt acht Folgen geschuldet ist. Es fehlt zu Beginn etwas an einem zündenden Funken, einem Knalleffekt, von dem aus sich das Ganze entwickeln und seinen schlüssigen Lauf nehmen könnte, wie der „Blutmai“ in Staffel 1 oder das Attentat auf Benda in Staffel 2. Auch ist auffällig, dass Kommissar Rath jetzt ein unmittelbarer und komplex angelegter Widersacher fehlt; man vermisst das Sich-Belauern und -Umkreisen von Rath und Wolter, das jederzeit in eine handgreifliche Entladung umzukippen drohte. Die für künftige Entwicklungen viel versprechende Figur des Amtsnachfolgers von Benda, der konservative Revolutionär Oberst Günther Wendt (Benno Fürmann), ist dafür, auch aufgrund des hierarchischen Gefälles, (noch) kein hinreichender Ersatz.

Noch schreibt man – im Kontext der Serie – das Jahr 1929, und die Schatten, die die Zukunft (für uns Heutige die düstere Vergangenheit) wirft, sind bereits unübersehbar. Es erscheint daher, auch mit Blick auf sinkende Einschaltquoten, durchaus als mutiger Entschluss, die Geschehnisse um Kommissar Gereon Rath und seine persönlichen wie dienstlichen Affären weiterhin derart minutiös auszumalen - und nicht der Versuchung zu erliegen, zu den dramatischen Umstürzen des Jahres 1933 „vorzuspulen“, die sich im Zusammenhang von „Babylon Berlin“ sicherlich packend erzählen lassen. Karsten Essen

Staffel 4

Da sind sie wieder, die Helden aus der historischen Krimi-Serie „Babylon Berlin“: Gereon Rath (Volker Bruch) und Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries). Auch in der vierten Staffel (ab 8.10. bei Sky) suchen sie wieder nach Verbrechern aller Art. Historisch gesehen ist die Serie, die nach den Romanen von Volker Kutscher entwickelt wurde, nun im Jahr 1931 angekommen. Die Zeitgeschichte spielt erneut eine wichtige Rolle, da reale Vorkommnisse und historische Personen in die fiktive Handlung integriert wurden.

Kutscher selbst hatte seine Romanreihe mit dem achten Band „Olympia“ (2020) abgeschlossen, in dem die Hauptfigur Rath ums Leben zu kommen scheint. Ende Oktober 2022 erscheint der neunte Band „Transatlantik“, der über diese Frage Auskunft zu geben verspricht. Die Verfilmung der ersten Staffeln hatten sich allerdings schon früh von den literarischen Vorlagen entfernt. Schon für die ersten beiden Staffeln, die 2017 und 2018 erschienen und auf dem Roman „Der nasse Fisch“ beruhten, hatten die Drehbuchautoren schon Figuren hinzuerfunden, die Handlung verändert und Akzente der zeitgeschichtlichen Darstellung verlagert. Das galt erst recht für die dritte Staffel im Jahr 2020, die an den Roman „Der stumme Tod“ angelehnt war.

Bis an den Rand

Die vierte Staffel basiert nun teilweise auf dem „Goldstein“-Krimi, der 2010 als drittes Buch der Reihe erschien. Die Titelfigur des Romans taucht in der Adaption jetzt zwar auf und ist hier wie dort ein aus den USA eingereister jüdischer Gangster (Mark Ivanir), doch in der Serie wird mit ihm ein eigener Handlungsstrang eröffnet, den das Buch gar nicht kennt. Der verbindet die Familiengeschichte des Gangsters mit der einer Industriellen-Dynastie Nyssen, die von den Drehbuchautoren für die erste Staffel hinzuerfunden worden war. Ihr Name erinnert an jenen der Familie Thyssen, die zu den frühen Finanziers von Adolf Hitler gehörte. In Lars Eidinger als Alfred Nyssen hatte die Serie lange ein inszenatorisches Zentrum, weil die Figur exzentrisch angelegt war und der Schauspieler sie bis an den Rand des Chargierens trieb.

In der vierten Staffel ist Eidingers Figur eher an den Rand gerückt. Sie eröffnet hier weniger Perspektiven auf die realen Ereignisse des Jahres 1931, als dass sie etwas Zukünftiges imaginiert. Denn dieser Industrielle finanziert die Forschung der Raketentechnik, weil er von einer Fernlenkwaffe träumt, mit der die deutsche Reichswehr die feindlichen Hauptstädte London, Paris und sogar Washington in Schutt und Asche legen soll.

Die Serie nimmt hier ein Projekt vorweg, das die Nazis erst Ende der 1930er-Jahre forcierten und das dann als Rakete A4, die von der Propaganda V2 genannt wurde, zum Beschuss von England eingesetzt wurde. In die USA flog diese Rakete nur in der Fantasie des Schriftstellers Thomas Pynchon, in dessen Roman „Die Enden der Parabel“ (1974) eine solche Rakete in New York einschlägt.

Der Grund, warum die Raketengeschichte in die Serie Eingang fand, ist offensichtlich. Sie bietet die Chance für besondere visuelle Effekte; dafür haben die Macher immer historische Tatbestände, aber auch die Kontinuität mancher Romanfiguren geopfert. Viele dieser visuellen Effekte erlauben es dem Team Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten auch diesmal, kräftig aus der Filmgeschichte zu zitieren.

So finden sich erneut viele Verweise auf die Spielfilme, die Fritz Lang in der Weimarer Republik drehte, von „Frau im Mond“ bis zu „M“. Es gibt auch Anspielungen auf die Sozialdramen eines Sydney Pollack („Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“, USA 1969), auf das Genre des Boxer- und des Gangsterfilms. Der überraschendste Verweis gilt den Scherenschnittfilmen, die Lotte Reiniger in den 1920er-Jahren realisierte. Mit den Mitteln dieser Tricktechnik findet die Geschichte um die Beziehung zwischen dem amerikanischen Gangster und den deutschen Industriellen dann ein überraschendes Ende.

Emotionales Zentrum: Charlotte Ritter

Im Mittelpunkt der politischen Handlungsebene stehen nun Auseinandersetzungen innerhalb der NSDAP. Ein Flügel ihrer Sturmabteilung (SA) putscht 1931 gegen die Parteispitze um Hitler und Goebbels. Der Grund, so die Darstellung der Serie, scheint eher persönlicher Art zu sein, während sie in Wirklichkeit dadurch ausgelöst wurde, dass Hitler für eine gewisse Zeit der Idee eines Putsches öffentlich abschwor, während Teile der SA dafür plädierten. Einen Blick auf diese interne Auseinandersetzung eröffnet sich die Serie dadurch, dass sich Gereon Rath im Auftrag des Berliner Polizeipräsidenten der SA anschließt und nun phasenweise in der Nazi-Uniform agiert.

Das verleiht den ersten Folgen eine gewisse Binnenspannung, weil der Geheimauftrag erst später enthüllt wird und die Zuschauer den Protagonisten deshalb ebenso erstaunt als Nazi betrachten wie einige der Serienfiguren. Vor allem Charlotte Ritter ist entsetzt. Erst als Rath ihr sein Geheimnis anvertraut, fasst sie wieder Zutrauen zu ihm. Die beiden werden zu jenem Paar, das man schon seit den Folgen der ersten Staffel in ihnen vermutete.

Liv Lisa Fries ist als Charlotte Ritter noch mehr als in den ersten drei Staffeln das emotionale Zentrum der Serie, auch wenn ihre (in den Büchern inexistenten) familiären Probleme stark aufgesetzt wirken. Ihr gelingt es immer wieder, durch besondere Blicke, pfiffig vorgetragene Pointen und durch ein wunderbares Lachen die hektisch vorwärtsdrängende Handlung für einen Moment zu beruhigen und zu verdichten.

Ihr Partner Volker Bruch kämpft hingegen mit den diversen Aufgaben, mit denen seine Figur behängt wird: undercover als SA-Mann zuzuschlagen, als Mordermittler zu recherchieren, bei den Gangsterbossen als Vermittler aufzutreten und dann auch noch den liebevollen Partner bei Charlotte Ritter zu geben. All das überfordert Bruch sichtlich. Dass er am Ende dann noch behaupten muss, seine Figur sei aller Ängste ledig, nimmt man ihr ebenso wenig ab, wie man zuvor manchen Albtraum nachvollziehen konnte.

Parallel zu der politischen Handlungsebene wird von Kämpfen unter den Berliner Ringvereinen erzählt, hinter denen sich die Verbrecherorganisationen Berlins verbergen. Ihre Revierstreitigkeiten arten zu einer Art Krieg aus, den Gereon Rath mit einer cleveren Idee befrieden will. Wie er diese Idee entwickelt und durchsetzt, ist ebenso spannend erzählt wie ihr Ausgang dann martialisch. Tatsächlich gelingt es dem Regie-Team auch in der vierten Staffel immer wieder, eine besondere Spannung zu erzeugen oder sogar durchaus komische Momente zu schaffen. Die Serie punktet mit ihrer Erzählung statt allein mit den geschilderten visuellen Effekten, zu denen auch eine Vielzahl bizarrer Morde gehört.

Effekthascherisch könnte man auch die exzentrische Darstellungsweise bezeichnen, die nicht nur Lars Eidinger als Industrieller pflegt, sondern auch Benno Fürmann als politischer Ränkeschmied. Beider Gesichter sind von Narben entstellt. Hier wie bei einigen anderen Figuren musste die Maske enorme Arbeit verrichten. Es ist, als wollte die Serie das Drama der Zeitgeschichte schon auf den Gesichtern ansichtig werden lassen.

Selbst der Hass auf Juden wirkt merkwürdig abstrakt

Das deutet auf das größte Problem der Serie hin, dass alles das, was sie vom Jahr 1931 an Verbrechen und politischen Intrigen erzählt, auf das Jahr 1933 und die Bestallung Hitlers als Reichskanzler hinauszulaufen scheint. Die Intervention in die SA, die der Polizeipräsident mithilfe von Gereon Rath unternimmt, erscheint nur noch als hilflos. Die Nazis selbst tauchen lediglich in den Gestalten der SA auf, während ihre bürgerlichen Sympathisanten nicht zu sehen sind.

Im Sühnegericht der „Weißen Hand“, einer Verschwörergruppe, die in der Serie das Strafrecht gleichsam privat ausübt, bleiben die Beteiligten anonym. Woher ihre Gewalt- und Rachefantasien kommen, verschwindet hinter ihrer Maskerade, so wie man in ihrem obersten Richter weniger eine historische Figur als vielmehr den Schauspieler Gustaf Gründgens sieht, der in „M“ von Fritz Lang das Recht in die eigene Hand nahm. Selbst der in dieser vierten Staffel immer mal wieder gezeigte Hass auf Juden wirkt merkwürdig abstrakt. Woher er kommt und wer ihn teilt, wird nicht einmal angedeutet. Daran ändert auch die liebevolle Zeichnung einer jüdischen Gesellschaft rund um das Scheunenviertel nichts.

Vielleicht bestand der größte Fehler der Drehbuchautoren, dass sie eine Serienfigur (Matthias Brandt), die an Bernhard Weiß angelehnt war, der bis 1932 als stellvertretender Polizeipräsident in Berlin fungierte, bereits in der ersten Staffel durch eine Sprengladung hatten umbringen lassen. Der reale Weiß hatte mit allen legalen Mitteln immer wieder versucht, den Nazis das Handwerk zu legen. Das trug ihm den Hass von Goebbels ein, der ihn systematisch schmähte. Man kann es so sagen: Der Wunsch nach besonderen Knalleffekten wie dem des Attentats auf die Figur von Weiß hindert die Serie daran, der selbst gestellten Aufgabe, ein Gesellschaftsbild von der späten Phase der Weimarer Republik zu zeichnen, gerecht zu werden.

In der Audiothek: Ein „Goldstein“-Hörspiel

Was bleibt, ist ein praller Bilderbogen, der von der rastlosen Musik nach vorne getrieben wird. Weitere Staffeln, so ist zu vermuten, werden folgen. Ob der Elan der Co-Produzenten, zu denen ja die seltene Allianz aus privatem Pay-TV-Veranstalter und öffentlich-rechtlichem Sender gehört, ausreichen wird, die Serie bis zur Verfilmung des achten Bandes zu treiben, steht in den Sternen.

Wer sich dafür interessiert, wie im Roman „Goldstein“ die Geschichte erzählt wird, kann sie sich auch im vierteiligen Hörspiel gleichen Namens vergegenwärtigen, das der WDR produzierte und in der Audiothek bereithält. Das Textbuch, das Thomas Böhm und Benjamin Quabeck verfassten, der auch Regie führte, hält sich eng an die Vorlage von Volker Kutscher. Dietrich Leder

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