Dokumentarfilm | Deutschland/Italien/USA/VR China 2017 | 140 Minuten

Regie: Ai Weiwei

Der chinesische Künstler Ai Weiwei drehte den ersten umfassenden Kinofilm zur Migrationsproblematik. Darin dokumentiert er die globalen Ausmaße von Flucht und Vertreibung: Drohnenaufnahmen von Flüchtlingscamps auf verschiedenen Kontinenten wechseln mit reportagehaften Einblicken in das Leben in den Camps, wozu auch Interviews mit Flüchtlingen, Grenzschützern und Vertretern von Hilfsorganisationen gehören. Der Film will zwischen den globalen Dimensionen der Flüchtlingskrise und Einzelschicksalen vermitteln, was angesichts des überbordenden Materials nur bedingt gelingt. Zudem irritiert, wie sich der Regisseur als aktiv Helfender immer wieder selbst in Szene setzt. - Ab 16.
Zur Filmkritik Im Kino sehen

Filmdaten

Originaltitel
HUMAN FLOW
Produktionsland
Deutschland/Italien/USA/VR China
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Participant Media/Rai Cinema/24 Media/AC Films
Regie
Ai Weiwei
Buch
Yap Chin-Chin · Tim Finch · Boris Cheshirkov
Kamera
Ai Weiwei · Murat Bay · Christopher Doyle · Huang Wenhei · Koukoulis Konstantinos
Musik
Karsten Fundal
Schnitt
Niels Pagh Andersen
Länge
140 Minuten
Kinostart
16.11.2017
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Ai Weiweis umfassender Kinofilm zur Migrationsproblematik

Diskussion
In einem Hangar in Berlin-Tempelhof sitzt ein etwa zehnjähriges dunkelhäutiges Mädchen und redet über Langeweile. Die Flüchtlingsunterkunft verlassen? Darf sie nur in Begleitung der Eltern. „Es gibt so viele Verbote. Alle langweilen sich hier“, sagt das Kind. Doch es hat wohl noch Glück, in Deutschland, wo so viele andere hinwollen. Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat einen Dokumentarfilm über die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen zwei Jahre gedreht. Mithilfe von mehr als 20 Teams drehte er an verschiedenen Orten in Europa, im Nahen und Mittleren Osten oder in der Subsahara, dokumentierte die Situation in vielen Notunterkünften, an Grenzübergängen und Küsten. Ausgangspunkt für den Film, so hat es der Künstler und politische Aktivist selbst erklärt, war ein Erlebnis 2015 auf der griechischen Insel Lesbos, wo er mit seinem Sohn Urlaub machte. Ein Flüchtlingsboot strandete, und Ai begann, die Ereignisse mit seinem Smartphone zu filmen. Wer immer dann das Folgende gedreht hat: Man sieht Ai Weiwei kurz darauf aktiv Hilfe dabei leisten, die durchnässten, erschöpften, auch erleichterten Menschen ans Ufer zu holen. Man ist dabei hin- und hergerissen, bewundert einerseits Ais Engagement, ist andererseits aber irritiert durch die Zurschaustellung seiner Tatkraft. Worum geht es denn eigentlich in „Human Flow“? Um die Auseinandersetzung mit einem hochkomplexen Thema oder schlicht um die Behauptung: Wenn alle helfen, wird alles gut? Irritierend wirkt vor allem die Häufigkeit, mit der Ai Weiwei sich selbst inszeniert. Einmal tauscht er mit einem syrischen Flüchtling den Pass, lacht über den behaupteten Identitätswechsel. Doch es wirkt schlicht geschmacklos, die Problematik von Flucht, Vertreibung und der Suche nach einer neuen Heimat auf einen Taschenspielertrick herunterzubrechen und mit symbolischen Handlungen zu banalisieren. Auch in seinen künstlerischen Werken zum Flucht-Thema hat Ai nicht immer Geschmack bewiesen: 2015 ließ sich der beleibte Künstler in der Position eines toten syrischen Jungen an einem Strand fotografieren. Dass eine gewisse Distanz zum Leiden Anderer größere Wirkung entfalten kann, zeigt eine Ai-Weiwei-Installation mit einer Unzahl an Schwimmwesten, die in die Fensteröffnungen der Kopenhagener Kunsthal Charlottenborg gequetscht waren. Mit dem Prinzip Readymade – Marcel Duchamps Erfindung einer zur Kunst erklärten Realie – hat Ai Weiwei seine überzeugendsten Werke geschaffen. Entsprechend sind auch jene Filmbilder, die Migrationsrealität anhand von Dingen zeigen, die stärksten in „Human Flow“: eine improvisierte Handy-Ladestation in einem Füchtlingscamp oder der orangenfarbene Flickenteppich aus unzähligen Rettungswesten, aus großer Höhe aufgenommen und als ausdrucksvolles Schlussbild des Films platziert. „Human Flow“ ist der Versuch, zwei Jahre Flüchtlingskrise so umfassend wie möglich zu beleuchten. Medienschlagzeilen poppen am Bildrand auf, literarische Bekenntnisse verschiedener Jahrhunderte rufen in Erinnerung, dass es Migration und Heimatlosigkeit schon immer gegeben hat. Partiell haftet dem Film etwas Altklug-Belehrendes an. Die subjektive Haltung, die Ai mit seinen egomanischen Auftritten behauptet, wird durch die pedantische Anhäufung von Informationen bisweilen infrage gestellt. Zwar ist „Human Flow“ ein Film mit problematischen Zügen, mit zu harscher Kritik sollte man indes vorsichtig sein. Wer bekommt dieses Jahrhundertdilemma schon in den Griff? Ist es nicht wohlfeil, einen Dokumentarfilm anzugreifen, der immerhin ein Versuch sich dem Thema Migration zu stellen – während ansonsten Abschottung allmählich zum Standardrezept gegen das „Problem“ wird? Wenn Ai Weiwei sein Mitgefühl wie eine Flagge vor sich herträgt, ist das immer noch besser als die allzu oft unwidersprochene Gefühlskälte von EU-Technokraten und rechten Parteifunktionären. Positiv formuliert: Man kann „Human Flow“ als Reiseführer in eine Gegenwelt zur westlichen Wohlstandsgesellschaft betrachten, in der Entrechtete nach Obdach suchen. Neben den Migranten beschreiben Ärzte oder Mitglieder von Hilfsorganisationen die jeweilige Lage vor Ort. Reportagehafte Sequenzen zeigen den bedrückenden Flüchtlingsalltag. So erlebt man fast hautnah mit, wie schwierig sich die Überquerung eines kleinen Flusses in Nordgriechenland auf dem Weg zur mazedonischen Grenze gestaltet. Für den imponierenden Erzählfluss sorgte der dänische Cutter Niels Pagh Andersen, der Joshua Oppenheimers Dokus „The Act of Killing“ (fd 42 034) und „The Look of Silence“ (fd 43 382) montierte. Durch distanzierende Bilder von Drohnenkameras werden dramatische, oft schwer erträgliche Szenen aus Camps und an stacheldrahtumzäunten Grenzen immer wieder ausbalanciert. Ohnehin ist „Human Flow“ kein Film, der schockieren will. Er ist von Empathie getragen, von spürbarer Bewunderung für die Entschlossenheit, sich zu einem besseren Leben aufzumachen. Wo Ai Weiwei Menschen und Einzelschicksale in den Blick nimmt, überzeugt sein Film. Es gibt viele Begegnungen auf Augenhöhe; und manches Gespräch mit Betroffenen in Afghanistan, Gaza, im Irak, in Israel, im Libanon, in Serbien oder den USA gibt dem Zuschauer das beklemmende Gefühl, das er sich selbst in einer ähnlichen Lage befinden könnte. Das Dilemma eines Films, der durch die Wucht und Menge bedrückender Szenen auch zu so etwas wie Gewöhnung und Abstumpfung beim Zuschauer beitragen mag, kann Ai Weiwei nicht auflösen. Gleichwohl ist „Human Flow“ der erste umfassende Kinofilm zur Migrationsproblematik – und das sollte man dem Künstler bei aller Detailkritik hoch anrechnen.
Kommentar verfassen

Kommentieren