Die Dokumentaristin Annekatrin Hendel quartiert sich für vier Wochen in einem Hotel an der Ostsee ein, begleitet von ihrer Kamera und ihrer Ostberliner Freundin, der Künstlerin Ines Rastig, deren Leben in Scherben liegt: Sie ist todkrank und seit einer schmerzhaften Trennung wohnungslos. Während ihre gemeinsamen Gespräche um den Zusammenbruch von Rastigs Existenz kreisen, wird das kleine Hotelzimmer zu einem Bekenntnisraum, in dem die gesellschaftliche Perspektive bisweilen etwas abhandenkommt, gleichwohl eine mitunter schmerzhafte Intimität entsteht, die der Dokumentarfilm intensiv einfängt.
- Ab 16.
Fünf Sterne
Dokumentarfilm | Deutschland 2016 | 79 Minuten
Regie: Annekatrin Hendel
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2016
- Produktionsfirma
- It Works! Medien/K13 Studios
- Regie
- Annekatrin Hendel
- Buch
- Annekatrin Hendel
- Kamera
- Annekatrin Hendel
- Schnitt
- Rune Schweitzer
- Länge
- 79 Minuten
- Kinostart
- 11.05.2017
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Heimkino
Schmerzlich-intimes Porträt der ostdeutschen Künstlerin Ines Rastig
Diskussion
Damals, in Ostberlin, nannte Annekatrin Hendel ihre dauerkreative Freundin Ines Rastig „Ines Rastig Superstar“. 33 Jahre ist das her, erzählt Hendel einleitend aus dem Off. Der Superstar-Titel, der vor der Entstehung der Casting-Shows noch eine ganz andere Bedeutung hatte, gibt eine Ahnung davon, wer die Fotografin, Musikerin, Kostümbildnerin und Lebenskünstlerin Ines Rastig einmal war: eine Frau mit Underground-Status, schillernd, mittendrin in der Ostberliner Bohème.
Zum Zeitpunkt des Films ist Ines Rastig alles andere als schillernd, auch wenn man ihr fasziniert zuhört. Was sie erzählt, ist unterhaltsam, pointiert, humorvoll, manchmal etwas sarkastisch und auf eine fast erschütternde Weise ehrlich. Rastig geht es schlecht. Sie ist todkrank, hat Lungenkrebs im Endstadium und nach einer heftigen Trennung nicht nur ihre Wohnung, sondern auch die Tochter verloren: „Ich werde bestraft in jeder Hinsicht.“
Was Rastig bleibt, ist ihre Online-Existenz. Schon seit vielen Jahren lebt sie den überwiegenden Teil ihres Lebens digital; sie postet Fotos über Facebook, pflegt Netzfreundschaften und führt eine richtige Beziehung, wie sie mehrfach betont, selbst wenn sie dem Mann, Harvey, noch nie physisch begegnet ist. Die gleichfalls digitale Präsenz einer anderen Frau aber überschattet die Online-Liebe: Nichts bewegt sich, die Hoffnung ist dahin, jedes gepostete Foto der „anderen“ entfacht einen Eifersuchtsanfall.
Hendel und Rastig sitzen den ganzen Film über auf 36 Quadratmetern, in einem Hotelzimmer an der Ostsee. Hendel „bewaffnet“ sich mit einer Kamera, sie filmt und fragt, Rastig erzählt. Nicht zufällig wird das Hotel, in das sich die beiden Freundinnen dank eines Stipendiums für Hendel vier Wochen lang kostenlos einquartieren konnten, im Abspann „Chelsea an der Ostsee“ genannt. Der Name ruft einen gewissen Bohème-Lebensstil auf, spielt aber auch auf Andy Warhols legendären Hotelfilm „The Chelsea Girls“ (1966) an.
Doch im Unterschied zu Warhols Methode des unbeteiligten Einfangens von bloßem „Leben“ ist „Fünf Sterne“ ein Film mit einer viel nachdrücklicheren Absicht, einem viel insistierenden Ton hinter der Kamera. Hendel will ziemlich viel von Rastig. Sie will das Leben ihrer Freundin verstehen, den Zusammenbruch ihrer Existenz, den Rückzug aus der Realität, die Flucht ins Virtuelle – Rastig nennt es selber so: Flucht. Sie sagt aber auch, Facebook sei ihre Rettung gewesen vor einer erstickenden Lebens- und Beziehungssituation. „Dieses Modell, ich als bundesdeutsche Hausfrau, hat ja auch nicht funktioniert.“
„Fünf Sterne“ ist ein intensiver Film von mitunter schmerzhafter Intimität; man kann sich in ihm unmöglich wohlfühlen. Nie verlässt die Kamera das Hotelzimmer; nur in Ausschnitten ist die Außenwelt präsent: durch Blicke vom Balkon auf die Ostsee, vor allem aber durch Rastigs Fotos, die Hendel wie eine parallele Erzählung in den Film hineinmontiert – und die dann oftmals gleich wieder in den digitalen Kreislauf eingeschleust werden. Meist aber sieht man Rastig mit Mütze und in Wolldecken gehüllt vor dem Laptop sitzen, Obst essen, Musik hören. Oder sie steht rauchend auf dem Balkon, fotografiert. Einmal wird sie nervös, fast ein bisschen verzweifelt, das Netz funktioniert nicht. Sie zeigt der Kamera den Stinkefinger. Manchmal kommen ihr beim Erzählen auch die Tränen.
Unter Hendels Beobachtungsblick verwandelt sich das Hotelzimmer in einen Bekenntnisraum. Angesichts des nahenden Todes ist die „Beichte“ der Freundin auch so etwas wie ihr Vermächtnis. Rastig selbst konnte das Ergebnis nicht mehr sehen, sie starb vier Monate nach Ende der Dreharbeiten. Ob sich Rastig, die sich offensichtlich in virtuellen Kommunikationswelten wohler fühlte, mit diesem unerbittlichen Wirklichkeitsbild hätte anfreunden können? Man ist jedenfalls froh, wann immer Hendel von einem allzu intimen Blick abrückt und die vermeintlich privaten Katastrophen und Schwierigkeiten mit einer gesellschaftlichen Perspektive verknüpft: Fragen nach dem Dasein als Ehefrau und Mutter, die virtuelle Kommunikation als Existenzbeweis, der Berliner Wohnungsmarkt. Ines Rastig hat dazu viel zu sagen. Und es geht nicht nur sie etwas an.
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