Im Pass von Marina Vidal steht noch immer „Daniel“. Der amtliche Beleg für die Indifferenz gegenüber ihrem eigentlichen Wesen, den die junge Transgender-Frau zu ihrem Ärger ständig bei sich tragen muss, wird sie doch weit öfter nach ihren Papieren gefragt als andere. Ihre Umgebung macht ihr immer wieder klar, wie schwer sie sich damit tut, Marinas gewähltes Geschlecht zu akzeptieren. Immerhin aber hat sich eine kleine schützende Blase um sie gebildet: Bei ihrer Arbeit als Kellnerin in einer Bar hat sie ebenso ihre Ruhe wie bei den gelegentlichen Gesangsauftritten gegen Feierabend, und privat läuft es geradezu traumhaft gut. Der ältere Orlando ist Marina ein zärtlicher Partner, der für sie seine Familie verlassen hat und mit ihr zusammengezogen ist. An ihrem Geburtstag richtet er ihr eine aufwändige Feier aus, führt sie in ein schickes Restaurant und anschließend zum Tanz in eine Disco, bevor sie als glückliches Paar in ihre gemeinsame Wohnung zurückkehren. Ein Abend, wie er besser kaum sein könnte.
Der Chilene Sebastián Lelio schickt seine Hauptfigur in den ersten Minuten durch in unwirkliches Licht getauchte idyllische Bilder, bevor Marinas Blase mit grässlichem Knall zerplatzt. Mitten in der Nacht verspürt Orlando plötzlich Krämpfe, stürzt beim Aufstehen und verliert auf der Fahrt ins Krankenhaus das Bewusstsein. Dort angekommen, vermelden die Ärzte seinen Tod. Für Marina ist die Erschütterung umso größer, als man ihr allgemein mit Verachtung und Misstrauen begegnet: Der zuständige Doktor ignoriert ihre Beziehung zu dem Toten und hält sich nur an Orlandos Familie, die Marina unverhohlen feindselig begegnet. Als sie unter Schock aus der Klinik fortläuft und durch die Straßen irrt, wird sie von der Polizei aufgegriffen und zurückgebracht. Ihr plötzlicher Dang zu verschwinden bringt eine Kommissarin dazu, hinter Orlandos Tod eine mögliche Sexualstraftat zu vermuten.
Eine Hymne an eine außergewöhnliche Frau
Einfühlsam und sehr dicht an seiner Hauptfigur stellt Lelio den peinigenden Spießrutenlauf dar: Die Phase, der Trauer und Abschiednehmen gehören sollten, wird für Marina zur Abfolge von Erniedrigungen und Beleidigungen. Zum demütigenden Verdacht der Polizei kommt das Verhalten der Familie: Orlandos Frau behandelt Marina mit purer Verachtung, weist sie an, so bald wie möglich aus der Wohnung ihres Mannes auszuziehen, und verbietet ihr rigoros die Teilnahme an Trauerfeier und Beerdigung. Der Sohn des Toten untermauert dies mit Drohungen, die nicht nur der väterlichen Geliebten gelten, sondern auch dem Andersartigen, das Marina repräsentiert. Als Marina sich widersetzen will, greift er mit seinen Kumpanen auch zu gewaltsamen Aktionen.
An diesen Stellen zeigt „Eine fantastische Frau“ prägnant die unangenehme Lage auf, der sich Transgender nicht nur in Chile ausgesetzt sehen. Ansonsten aber vermeidet Lelio konsequent die Fallstricke eines Thesenfilms und konzentriert sich ganz auf Marinas individuelle Perspektive. Wie bei seinem vorherigen Film „Gloria“ geht es ihm um eine Hymne an eine außergewöhnliche Frau in ihrem Kampf um Akzeptanz für das von ihr gewählte Leben, wobei der Chilene diesmal sogar noch feinfühliger agiert: Seine brillante Hauptdarstellerin Daniela Vega muss Marina zu keiner Zeit auf ihre Transgender-Aspekte begrenzen, ist vielmehr im Ausdruck ihrer reichhaltigen Gefühle vor allem ein Mensch in einem Zwischenstadium. Angst, Zweifel und Trauer sind darin enthalten, aber auch Entschlossenheit, sich von dem eingeschlagenen Weg nicht abbringen zu lassen.
Gegenseite wird nicht dämonisiert
Lelio ist in seiner Sympathie uneingeschränkt bei der Hauptfigur, verzichtet aber darauf, die Gegenseite zu dämonisieren. Das Verhalten von Marinas Verächtern erscheint zwar ungerecht, wird aber nachvollziehbar aus persönlichem Schmerz und Unwissen abgeleitet. Um das Porträt im Zentrum webt der Film ein dichtes Netz aus unaufdringlichen Zitaten: Dass Marinas Freund den Namen Orlando trägt, ist eine schöne Referenz auf Virginia Woolfs geschlechterauflösenden Roman, der Einsatz der Musik unterstreicht galant das Ringen der Protagonistin, etwa wenn sie die Händel-Arie „Ombra mai fu“ einstudiert, in der es um den Wunsch nach einem Paradies auf Erden geht.
Damit und mit einigen surrealen Sequenzen unterbricht Lelio bisweilen den realistischen Grundansatz und begibt sich vollkommen in Marinas Gefühlswelt. Die Hoffnung auf eine glückliche Wende ist in diesem tief bewegenden Film stets zum Greifen nahe.