In sorgfältigen Einstellungen beobachtet der Dokumentarfilm Besucher der KZ-Gedenkstätten in Sachsenhausen und Dachau, die sich weder äußerlich noch habituell von Touristen x-beliebiger Sehenswürdigkeiten unterscheiden. In seiner gesuchten „Entleertheit“ findet der provokative Film dabei ein mächtiges Bild für den Verlust von Geschichtsbewusstsein und das Scheitern der Erinnerungskultur. Die nur scheinbar neutralen Beobachtungen provozieren durchaus auch Widerspruch, weil sie allzu deutlich auf die Empörungsreflexe eines bildungsbürgerlichen Publikums abzielen. (O.m.d.U.)
- Ab 16.
Austerlitz (2016)
Dokumentarfilm | Deutschland 2016 | 94 Minuten
Regie: Sergei Loznitsa
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2016
- Produktionsfirma
- Imperativ Film
- Regie
- Sergei Loznitsa
- Buch
- Sergei Loznitsa
- Kamera
- Sergei Loznitsa · Jesse Mazuch
- Schnitt
- Danielius Kokanauskis
- Länge
- 94 Minuten
- Kinostart
- 15.12.2016
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Provokativer Essayfilm über KZ-Tourismus
Diskussion
Die Kamera wählt ihre Position zunächst etwas versteckt hinter den Bäumen. Durch das Blattwerk, das der Film wie einen halbtransparenten Vorhang ins kontrastarme Schwarz-Weiß-Bild setzt, sieht man Menschen aus beiden Richtungen vorbeigehen, einige nehmen auf Bänken Platz, verweilen. Das Gefühl eines gewöhnlichen Sommerausflugs verströmen auch die nächsten Bilder. Menschen in kurzen Hosen, T-Shirts, Sonnenbrillen und Rucksäcken schlendern in Gruppen, in Paaren, mit Kindern, vereinzelt herum. Sie sind mit Fotoapparaten, Handys, Selfie-Sticks, Zetteln und Audio-Guides ausgestattet; sie bleiben stehen, laufen weiter, fotografieren, gucken scheinbar ins Leere. Auf der Tonspur ist undefiniertes Stimmengewirr zu hören, Schritte im Kies und irgendwann auch ein beschwingtes Pfeifen. Erst einige Einstellungen später verschafft die bekannte Torinschrift „Arbeit macht frei“ Klarheit über Situation und Rahmen von „Austerlitz“.
„Austerlitz“, benannt nach dem gleichnamigen Roman von W.G. Sebald, in dem der jüdische Kunsthistoriker Jacques Austerlitz seine Biografie nicht zuletzt über den Weg architektonischer Bauwerke erforscht, ist kein Film der teilnehmenden Beobachtung. Distanziert, vermeintlich neutral, beobachtet der ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa Besucher der KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Dachau – als eine anonyme, weitgehend entindividualisierte Masse, als eine KZ-Touristenmasse. Loznitsa positioniert seine Kamera in statischen, sorgfältig kadrierten Einstellungen an verschiedenen Orten, mal näher dran, mal weiter weg, mal mit extremer Tiefenschärfe durch entfernte Gebäudefenster hindurchgefilmt. Die Positionen folgen dem vorgegebenen Parcours durch das Tor, die Baracken, über die Vorplätze und vorbei an den Schussanlagen, zu der Gaskammer, den Verbrennungsöfen und am Ende wieder hinaus.
Das vorherrschende, explizit auf Redundanz angelegte Bild in „Austerlitz“ ist das eines gleichförmigen Stroms: Menschen traben, schlappen, flanieren von A nach B, stecken hier und da den Kopf rein, essen zwischendurch ein halbes Sandwich im Gras, machen Fotos, auch vor und mit den Signaturen des Grauens – ein Besucher lässt sich an einen Pfahl gelehnt fotografieren, mit den Armen simuliert er die Pose eines Gefangenen. Abgeschmackt wirkt in dieser Umgebung auch so manche T-Shirt-Botschaft: Cool Story Bro, Jurassic Park, ein Totenkopfmotiv. Auch wenn sich aus dem vielsprachigen Stimmengewirr immer wieder Passagen aus den Führungen herauslösen – ein Guide kündigt den „dunkelsten Teil der Führung“ an, ein anderer hält einen Vortrag über die Versorgungslage im KZ – bleiben Körper und Gesichter der Menschen gleichförmig, teilnahmslos, stumpf. Das die blassen Graustufen betonende Bild uniformiert und verflacht sie dabei zusätzlich.
Er habe diesen Film gemacht, um die Motivation der Menschen zu verstehen, die ihre Sommerwochenenden in ehemaligen Konzentrationslagern verbringen, sagt Loznitsa. Um die Motivation der Menschen scheint es in „Austerlitz“ aber gerade nicht zu gehen – schließlich hätte der Regisseur dafür von seiner distanzierten Position ein Stück weit abrücken müssen. Loznitsas rigides Konzept aber sieht schlichtweg keine Berührung von Mensch und Ort vor. Und es ist auch nicht auf Differenz angelegt. Dabei belässt es Loznitsa keineswegs bei der „bloßen“ Beobachtung. Die Tonspur, für die wie schon in „Maidan“ (fd 43 316) Vladimir Golovnitski verantwortlich zeichnet, ist ausgefeilt und komplex. Immer wieder ist ein undefinierbares metallisches Geräusch zu hören, das beunruhigt und subtile Horrorsignale aussendet. Ein brillantes Stück Sounddesign ist auch die Isolierung von Sprechteilen aus dem Sprachteppich – der Abspann führt immerhin 9 Synchronsprecher auf.
„Austerlitz“ hinterlässt ein ambivalentes Gefühl. Loznitsa findet ein, gerade in seiner scheinbaren Entleertheit, ziemlich mächtiges Bild für den Verlust historischen Bewusstseins und das Scheitern der Erinnerungskultur. An diesem Bild mag viel dran sein. Doch seine ausgestellt neutralen Beobachtungen provozieren bei einem aufgeklärten, an Pietät festhaltenden Publikum unweigerlich Empörungsreflexe. Es schleicht sich sogar das Gefühl ein, dass der Film sein ästhetisches Konzept über das stelle, was Beobachtung im besten Fall eben auch ausmachen sollte: Offenheit und echtes Interesse.
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