Les Sauteurs - Those Who Jump

Dokumentarfilm | Dänemark 2016 | 83 Minuten

Regie: Moritz Siebert

Bilder aus den Lagern afrikanischer Flüchtlinge, die vor der spanischen Enklave im nordafrikanischen Melilla darauf hoffen, die Sperranlagen zu überwinden und Asyl zu beantragen. Die Aufnahmen stammen von einem der Migranten und dokumentieren die Selbstwahrnehmung der Menschen und ihre Sicht auf Europa. Der dokumentarische Film macht sich die Träume, Hoffnungen und Ängste der jungen Männer zu eigen, fängt aber auch die brutalen Bedingungen und die gnadenlose Hackordnung ein, die nur dem Stärksten den Sprung nach Europa ermöglicht. Eine bestürzende, ungeschönte Innensicht, die die Menschen ins Zentrum stellt und sich nicht um politische Fragestellungen kümmert. (O.m.e.U.) - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LES SAUTEURS
Produktionsland
Dänemark
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Final Cut for Real
Regie
Moritz Siebert · Estephan Wagner · Abou Bakar Sidibé
Buch
Moritz Siebert · Estephan Wagner
Kamera
Abou Bakar Sidibé
Schnitt
Estephan Wagner
Länge
83 Minuten
Kinostart
17.11.2016
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Ungeschönte Innensicht afrikanischer Migranten, die vor der nordafrikanische Enklave Melilla auf einen Gelegenheit warten, nach Europa zu fliehen

Diskussion

Ein auf den ersten Blick abstraktes Schwarz-weiß-Bild, in der Mitte lokalisiert durch ein Fadenkreuz und daher schnell als Negativ einer Infrarot-Kamera erkennbar. Darauf sieht man Linien, Häuserumrisse, Baumkronen; wenig später kleine schwarze Punkte, die sich auf einer Linie bewegen. Sie sind ungreifbar, weit weg. Wie man bald versteht, handelt es sich bei den Punkten um die abstrakten Spuren von Menschen. Junge Männer mit schwarzer Hautfarbe, in Jeans und Lederjacken oder T-Shirts, die unter heißer Sonne steile Felsabhänge hochklettern, zwischen Kakteen und Bäumen. Grillenzirpen begleitet das.

Es dauert einige Minuten, bis der Film sich räumlich, zeitlich und erzählerisch lokalisiert hat. Fast alles spielt im Küstengebiet am Nordrand von Marokko, unterhalb der spanischen Exklave Melilla, also an einem von zwei kleinen Punkten, wo Afrika eine Landgrenze mit der EU besitzt. Rundherum hausen Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Schwarzafrikanern in provisorischen Lagern. Ihr einziges Ziel besteht darin, über diese Grenze zu kommen. Melilla wird durch meterhohe, dreifache Zaunanlagen gesichert, sowie durch Überwachungskameras wie jene, deren Bilder den Film einleiten. Hinzu kommen marokkanische Polizei und Armee, die zumindest halbherzig das Gelände im Umland kontrollieren und gelegentlich die Lager der Flüchtlinge heimsuchen.

Gleichzeitig aber gilt europäisches Recht: Wer es trotz aller Schikanen über die Grenze auf EU-Boden schafft, der darf bleiben und einen Antrag auf Asyl oder Ähnliches stellen. In der Hoffnung hierauf liegt die Versuchung, die Melilla verkörpert. Der Titel „Les Sauteurs“ bezieht sich genau hierauf: auf die oft wiederholten Versuche, den Zaun nach Europa irgendwie doch zu überspringen.

Die deutschen Regisseure Moritz Siebert und Estephan Wagner haben einen originellen Weg gewählt, um diesen Zustand zu beschreiben. Sie haben dem aus Mali stammenden Abou Bakar Sidibé eine Kamera gegeben, um sich selbst, sein Leben im Lager, seine Freunde und Leidensgenossen zu filmen. Mit ihm blickt auch der Film von Außen auf den Zaun, und macht sich den Blick der Flüchtenden, ihre Träume, Hoffnungen und Ängste ganz zueigen.

Alle drei, der allein filmende Sidibé, Siebert und Wagner, firmieren als Regisseure. Hierbei erweist sich Sidibé kaum überraschend als derjenige, der am wenigsten naiv und sich den Fallstricken dieses interessanten Experiments bewusst ist: „Am Anfang war das Geld, das mir die Deutschen anboten, sehr wichtig“, bekennt er freimütig. So musste Siebert und Wagner erst sicherstellen, dass Sidibé wirklich filmen würde, anstatt die Kamera zu verkaufen, die für ihn in der Lagersituation einen enormen Wert darstellte.

Auf diese Weise wird schnell klar, dass Sidibé keineswegs nur der nüchterne Chronist seiner eigenen subjektiven Lebenswirklichkeit ist oder gar der Filmdelegierte einer Gemeinschaft von Flüchtlingen. Er dokumentiert auch nicht in einem höheren Auftrag Gewalt und Unrecht, sondern er dreht die Perspektive Westeuropas einfach um: Wir sehen uns in „Les Sauteurs“ mit den Augen der Afrikaner.

Dass dieser Perspektivwechsel als solcher moralisch sei, beruht dabei auf einem Irrtum. Denn im Prinzip unterscheidet sich das Filmkonzept kaum von der Idee eines „Leserreporters“, der die fragwürdige Behauptung zugrunde liegt, dass persönliche Betroffenheit, Wut oder andere Emotionen, ein „direkter“, also räumlich naher Zugang für sich bereits eine mediale Qualität garantieren würden. Hinzu kommt die Veränderung des Blicks von Sidibé allein durch den Umstand, dass er überhaupt filmt, und dass er die Welt um Melilla filmt.

Stellt man all dies, die komplizierte Frage, wer hier wen aus welcher Perspektive und mit welchem Interesse filmt, einmal in Rechnung, ist mit „Les Sauteurs“ ein faszinierender seltener Einblick in die Selbstwahrnehmung von Flüchtlingen und deren Sicht auf Europa gelungen. Das Ergebnis ist ein beklemmendes, originelles Bild der gegenwärtigen Flüchtlingssituation. Aber auch ein parteiisches Bild.

Man kann die Suggestion, dass „wir“ Zuschauer zu den Flüchtenden halten sollen wie zu einem Fußballteam oder einem Filmhelden, dem man ein Happy-End wünscht, in Frage stellen, ebenso wie die These, dass Europa hier Gewalt und Unrecht gegenüber armen Menschen anwendet. Das Großartige an diesem Film aber ist, dass er solche Reflexionen relativiert, indem er die psychische wie körperliche Stärke dieser jungen Männer sichtbar macht, die Härte, die man braucht, um in diesem Lager zu überleben, oder um sich Metallhaken in die Turnschuhe zu rammen, mit denen man dann am Zaun hochklettern kann. Neben sehr humanen, solidarischen Momenten zeigt der Film auch die alltägliche Brutalität des Lagerlebens mit seinen eisernen Gesetzen, in dem das Recht des Stärkeren dominiert und nur die Stärksten den Sprung nach Europa schaffen.

Gerade in seiner Parteilichkeit aber ist „Les Sauteurs“ ein Paradebeispiel für ein moralisierendes Kino, das sich zugleich um politische Fragestellungen herumdrückt. Denn dass die jungen Männer im Lager Träume und Familie haben, ist im Grunde ziemlich uninteressant. Denn das gilt auch für die Soldaten, die den Zaun bewachen, und die hier nur als abstrakte, austauschbare Funktionsträger beschrieben werden, deren Blick durch die Überwachungskamera die Flüchtenden abstrahiert und entmenschlicht.

Kommentar verfassen

Kommentieren