Elegant flattern die weichen Stoffe durch die Luft, bauschen sich auf, sinken zusammen und wirbeln rasend schnell herum, bis die Urheberin all dieser Spiralen kaum noch sichtbar ist. Eingehüllt in ein Meer von Seide, die Spannweite der Arme durch Stäbe vergrößert, lässt die Tänzerin ihr riesiges Kostüm um sich kreisen, wobei sie ihre Bewegungen permanent variiert. Der von der US-Amerikanerin Loïe Fuller entwickelte Serpentinentanz war in den 1890er-Jahren eine Sensation; wie sehr, kann man an seiner Reizwirkung auf die Pioniere des Kinos ermessen: Der Tanz war schon 1895/96 in den Filmprogrammen der Brüder Lumière und der Brüder Skladanowsky eine unverzichtbare Attraktion. Nicht unbedingt selbstverständlich ist, dass sich seine Wirkungsmacht auch heute noch vermittelt – die Leistung der Französin Stéphanie Di Giusto bei ihrem Loïe-Fuller-Biopic ist deshalb umso höher zu werten: Eindrucksvoll spielt sie mit den Möglichkeiten des Kinos, wenn die akribisch rekonstruierten Tanzbewegungen mit rasanten Schnitten, Lichteffekten und Musik in eine Feier der puren Bewegung überführt werden.
Die Regiedebütantin Di Giusto spannt ihren Film glücklicherweise auch jenseits dieser logischen Höhepunkte nicht in das Korsett eines konventionellen Kostümdramas ein. Die wahre Biografie von Loïe Fuller dient ihr in vielem nur als Vorlage für ein freies Porträt der Tänzerin als hart arbeitender Künstlerin unter höchst ungünstigen Voraussetzungen. So erfindet sie der als Marie Louise Fuller 1862 bei Chicago geborenen Frau eine schwere Jugend hinzu, in der sie ihren Tunichtgut von Vater zum Goldschürfen in den Wilden Westen begleitet und Zeugin von seinem gewaltsamen Tod wird. Angedrohter und vollzogener Gewalt ist sie nach ihrer Rückkehr weiter ausgeliefert. Ihre Mutter missbilligt als Mitglied einer Abstinenzler-Sekte zutiefst den Wunsch der Tochter, Schauspielerin zu werden, und lässt sie einer Zwangstaufe unterziehen; für künstlerische Aktfotos muss sie mit dem Fotografen ins Bett gehen. Ihr erster Bühnenauftritt droht durch ein schlecht befestigtes Kostüm ebenfalls zum Desaster zu werden, doch das Gelächter des Publikums provoziert eine instinktive Reaktion: Aus dem Fallen des weiten Kleides macht sie eine Abfolge von Drehungen und Wirbeln, die zum Fundament ihres späteren Tanzes werden.
Als Pausenfüller hat sie ersten Erfolg, die wahre Anerkennung aber bleibt aus. So macht sich Loïe Fuller nach Frankreich auf, wo sie auf ein Patent für ihren Serpentinentanz hofft. Durch eisernen Willen und Beharrlichkeit steigt sie zum Star der Folies Bergère auf, entwickelt ihren Tanz weiter und kann sogar eine eigene Schule gründen. Diesem Aufstieg setzt der Film den hohen Preis entgegen, den Loïe Fuller für ihre Kunst zahlen muss. Was ihr an tänzerischer Anmut fehlt, ersetzt sie durch exzessive Ausbeutung ihres Körpers. Als Folge davon bricht sie nach den Auftritten regelmäßig zusammen, muss ihre geschundenen Glieder stundenlang in Eis tauchen und betäubt die chronischen Schmerzen mit Alkohol und Äther. Zudem ruiniert sie sich die Augen durch die gleißenden Lichteffekte auf der Bühne.
Schonungslos legt „Die Tänzerin“ den technischen Aufwand und die künstlerische Selbstqual hinter der scheinbar mühelosen Darbietung bloß, ohne dass das effektvolle Spektakel dadurch entzaubert würde. Die Tanzszenen als visuelle Farbfeste heben sich markant vom Rest des Films ab, in dem Stéphanie Di Giusto mit vielen Grau- und Brauntönen eine eher düstere Belle Époque in Szene setzt. Ihre fulminante Hauptdarstellerin Soko erweist sich dabei als kongeniales Medium, um die Ambivalenz von Loïe Fuller nachvollziehbar zu machen: Mit vollem Körpereinsatz beim Herumwirbeln auf der Bühne, ihren Bewunderern gegenüber aber scheu und in ihrem Bedürfnis nach Liebe – etwa zu ihrer begnadeten Schülerin Isadora Duncan – unsicher und stets aufs Neue enttäuscht. Ihre spezielle Choreografie wird dadurch zur Abwehr gegen eine feindliche Welt: In den wilden Bewegungen, die ihren Körper ungreifbar machen, steckt auch das Drama einer weiblichen Emanzipation.