Eben noch in Richmond, New York, und nun in Heidelberg, Baden-Württemberg: Das Leben von Morris hat sich mit einem Schlag verändert. Ein Neuanfang soll es werden nach dem Tod der Mutter. Deshalb hat Vater Curtis in der Stadt am Neckar einen Job als Fußballtrainer angenommen, und klar, das Kind muss mit. Doch es läuft nicht besonders gut für den Witwer und seinen Sohn. Schon gar nicht für Morris. Der ist 13 Jahre alt, und das allein ist oft schon Herausforderung genug. Dieses Alter, in dem der richtige Sitz der Frisur die Grundstimmung des Tages bestimmen kann, sich der Blick auf Mädchen oder Jungen verändert und man unbedingt dazugehören will. Nur zu was? Und zu wem? Morris gehört in Heidelberg nirgends dazu: Er ist pummelig, hat dunkle Haut und spricht kaum Deutsch. Er steht auf Hiphop und nicht wie alle anderen auf Elektro. Vor allem der Gangsta-Rap hat es Morris angetan. Aber statt durch die Bronx läuft er an gepflegten Rosenhecken vorbei, lässt sich von Rentnern anrempeln oder von gleichaltrigen Jungs als „Big Mac“ dissen.
„Morris aus Amerika“, der beim diesjährigen Sundance Festival mit zwei Preisen bedacht wurde, ist also eine typische Coming-of-Age-Geschichte, in der ein Pubertierender zu sich selbst finden muss. Und das geschieht – ganz klassisch –, indem er sich das erste Mal verliebt. Im Fall von Morris ist die Auserwählte ein „Fräulein Wunder“: Katrin ist sehr blond, sehr cool, und es ist ihr mit ihren 15 Jahren schon viel zu eng in Heidelberg geworden. Natürlich ist sie eine Nummer zu groß für Morris, was dieser erst noch selbst herausfinden muss. Aber irgendwie frisst dieses Mädchen, vor dem alle Mütter ihre Söhne warnen würden, auch einen Narren an diesem Morris aus Amerika. Diesem Jungen, der nicht gerne tanzt, kein Basketball spielt und offenbar auch andere Eigenschaften, die afroamerikanischen Jungen und Männern gerne angedichtet werden, nicht erfüllt, der aber wie Notorious B.I.G. über „dicks“ und „bitches“ rappt und der sie, Katrin, gnadenlos anhimmelt.
Emotional getragen wird der – lobenswerter Weise durchweg zweisprachige – Film weniger von der Geschichte einer ersten Verliebtheit als vielmehr von der einfühlsam erzählten Vater-Sohn-Beziehung. Wie geht man um mit einem Kind, das sich in Richtung Erwachsener bewegt? Vater Curtis, der wie sein Sohn auf Rap steht, aber wenig von Gangster-Attitüden hält, verdonnert seinen Junior schon mal zu Stubenarrest, weil dieser einen schlechten Musikgeschmack hat, hebt die Strafe aber schnell auf, weil ihm danach nur die Gesellschaft seines Handys bleibt. Soll er seinem Sohn Kumpel sein oder Vater? „Morris aus Amerika“ lotet diese Frage aus und zeigt auch mal einen verunsicherten Vater, der seine Rolle im Leben seines Sohns neu definieren muss. Erzählt der Film auf dieser Ebene vielschichtig, stellt er die gesellschaftliche Realität in Deutschland doch eigenartig weltfremd dar. Sowohl Morris’ niedliche Deutschlehrerin Inka wie auch der Leiter im Jugendzentrum, beide eher jung als alt, haben beispielsweise keinen Schimmer davon, dass das „F-Wort“ zu jedem anständigen Rap dazugehört. Dass Deutschland mittlerweile eine multikulturelle Gesellschaft ist (was bekanntermaßen nicht allen hierzulande passt), dass Morris und Curtis keineswegs die ersten Amis in Heidelberg sein können, befand sich dort schließlich mal ein Hauptquartier der US-Streitkräfte in Deutschland, ist Regisseur Chad Hartigan irgendwie entgangen, und das macht das Setting zuweilen – zumindest aus hiesiger Sicht – etwas unglaubwürdig. Nicht alle afroamerikanischen Jungs können gut tanzen, und nicht alle deutschen Mädchen sind blond. Es geht in „Morris aus Amerika“ auf vielen Ebenen um Klischees und Vorurteile. Nicht alle sind beabsichtigt thematisiert. Aber man sieht ja alles aus der Sicht der Titelfigur. Und mit 13 Jahren fühlt man sich eben meist irgendwie unverstanden und kann sicher auch das Gefühl haben, man sei der einzige Amerikaner in Heidelberg.