Ein kleines blondes Mädchen läuft in einer eisigen, weißgefrorenen Landschaft durch den Schnee. Wie so oft beginnt auch der jüngste Film von Julio Medem in symbolischen Traumlandschaften, mit metaphorischem Überschuss, der sich erst nach einer Weile erschließt, wenn man zu ahnen beginnt, welche lebenswichtige Bedeutung dieses etwa achtjährige Kind, Natascha aus Sibirien, noch haben wird.
Weiß wie Schnee ist auch das Krankenhaus im weit entfernten Spanien. Magda (Penélope Cruz) ist noch keine 40 Jahre alt und steht doch an einem Wendepunkt ihres Lebens. Die Lehrerin hat durch die staatlichen Kürzungen ihre Arbeit verloren, ihr Mann, der Philosophiedozent Raúl, hat sie wegen einer blonden Studentin verlassen, ihr Sohn Dani bemängelt, wie wenig sie von seiner großen Leidenschaft, dem Fußball, verstehe. Außerdem hat Magda Brustkrebs. Der Gynäkologe Julian will sie gleich einer Chemotherapie unterziehen und die befallene Brust entfernen. Die Räume der Klinik sind hell, steril und unwirklich beruhigend. Zwischen den medizinischen Maschinen, Therapiegeräten und den weißen Kitteln des Personals entscheiden sich Schicksale, hier enden Existenzen oder definieren sich grundlegend neu.
Der ausgebildete Arzt und Psychiater Julio Medem inszeniert das Krankenhaus wie den Limbus, einen Vorhof für das Jenseits. In den weiten Krankenhausfluren entscheidet sich auch Arturos Schicksal. Magda hatte den Talentscout von Real Madrid auf der Tribüne bei einem Spiel ihres Sohnes kennengelernt, kurz bevor Arturo vom Tod seiner Tochter und dem Koma seiner Frau erfährt. Arturos Frau stirbt, Magda verliert eine Brust, hat aber den Krebs scheinbar überwunden. Magda, Arturo und Dani werden eine Familie.
Magdas Geschichte umfasst ein langes Jahr vom Sommer 2012 bis zum Sommer 2013. Es ist die Zeit der wirtschaftlichen und politischen Krise, als die Arbeitslosigkeit stieg und der Zerfall der spanischen Gesellschaft fortschritt. Übertönt wird die schleichende Auflösung durch das Jubelgeschrei der Fußballfans, die Spanien als Europameister feiern.
Im ersten Teil des Films überwindet Magda die Krankheit und findet eine neue Liebe. Doch wie immer bei Medem entpuppt sich der scheinbare Zufall als Schicksal. Bedingt durch die Kürzungen im Gesundheitssystem, muss Magda lange auf eine Krebsvorsorge warten. Es ist reiner Zufall, dass sie Julian auf der Straße trifft, und der sie untersucht. Die Krankheit ist zurückgekehrt, Metastasen haben sich gebildet; Magda bleiben noch sechs Monate Leben, und sie wird schwanger.
Medem ist ein Meister des Atmosphärischen, der kunstvoll verflochtenen Handlungsstränge und der verschachtelten Geschichten. Seit seinem brillanten Debüt „Vacas“
(fd 31 572) bis zu „Die Liebenden des Polarkreises“
(fd 34 513) und „Lucia und der Sex“
(fd 35 553) galt er fast uneingeschränkt als Meister des poetischen Films in Spanien. Seine Filme bestachen durch eine ungewöhnliche Erzählweise und durch erfrischende Transzendenz. Seine letzten beiden Filme „Caotica Ana“
(fd 38 999) und „Eine Nacht in Rom“ (2010) hatten allerdings etwas Süßliches, symbolisch Überfrachtetes, als hätte Medem sein bis dahin brillantes Gleichgewicht zwischen Zufall, Schicksal und Emotionen nicht mehr im Griff. Medems Stärken sind auch seine Schwächen. Er ist ein Meister atmosphärischer Märchen, aber man muss sich von Anfang an hundertprozentig auf diese Atmosphäre und die märchenhafte Unlogik seiner Geschichten einlassen. Mit „Ma Ma“, den er den Frauen widmet, knüpft er an seine besten Filme an. Das liegt in erster Linie an der vielschichtigen schauspielerischen Leistung von Penélope Cruz als Magda, einer Heldin in Zeiten der Krise, die sterbend noch Leben gibt und über ihren Tod hinaus das Leben ihrer Lieben geordnet hat. Aber auch an den anderen Schauspielern wie Luis Tosar als Arturo, dem gescheiterten Fußballer, und seiner Sehnsucht nach Leben und Liebe, oder Asier Etxeandia als Julian, dem singenden Arzt, der mit aller medizinischer Macht den Tod nicht verhindern kann, aber sich dem Wunder gegenüber offen zeigt.
„Ma Ma“ ist ein ergreifender Film, trotz einzelner pathetischer Stilisierungen, wie Magdas Begegnung mit drei Männern im Swingerclub. Die Kamera von Kiko de la Rica bleibt bei aller Dynamik ruhig, öffnet Räume, die selbst in Momenten tiefster Verzweiflung nicht trostlos wirken. Durch einen akzentuierten Schnitt bringt Medem eine ganz eigene Dynamik hinein, das Bild erzählt schon den Verlauf der Geschichte, während der Dialog, der Ton noch nach einer Lösung sucht. „Ma Ma“ ist eine tragische, aber zugleich hoffnungsvolle Geschichte über Krankheit und Tod, ein poetischer Film voller Lebenskraft.