Ein Mann kehrt heim. Zwölf Jahre hat Louis niemanden von seiner Familie gesehen, der Kontakt war auf Postkarten beschränkt. Nun aber hat sich der erfolgreiche Schriftsteller auf den Weg nach Hause gemacht, „dorthin, wo es wehtut“, wie es im Song der französischen Musikerin Camille zu Anfang des Films heißt. Die Distanz zu seinen Wurzeln ist bei dem Mittdreißiger so offensichtlich, dass sich ihm auch die Kamera im Prolog nur zögernd zu nähern scheint und wie zur Vorsicht erst einmal in seinem Nacken positioniert: Auf einem ruhigen Nachtflug hockt Louis angespannt in seinem Flugzeugsitz, während seine für den Zuschauer hörbaren Gedanken verraten, was der Grund für seinen Besuch ist. „Ich reise, um meinen Tod anzukündigen“, ist seine Offenbarung, die verrät, dass ein Autor hier versucht, auch in seinem Leben die Dramaturgie zu bestimmen. Es gilt, den Anschein von Kontrolle zu bewahren.
Von Eindrücken überrollt
Doch man kann sich in den Werken des jungen Kanadiers Xavier Dolan stets darauf verlassen, dass ein allumfassender Kontrollverlust nur eine Frage der Zeit ist. So geschieht es auch in seinem sechsten Kinofilm „Einfach das Ende der Welt“. Louis’ Absicht, der entfremdeten Familie seine tödliche Krankheit zu enthüllen und dann wieder zu gehen, erweist sich rasch als nicht umsetzbar. Seine hyperaktive Mutter, sein aufbrausender älterer Bruder Antoine und dessen schüchterne Frau Catherine sowie seine nervöse jüngere Schwester Suzanne drängen sofort nach seiner Ankunft auf ihn ein, und auch der Zuschauer wird erst einmal von Eindrücken überrollt.
Die für Dolan so charakteristischen aggressiven Wortwechsel, das hochemotionale Streiten, Schimpfen, Wüten finden hier eine Entsprechung in einer Bildsprache, die sich in schnelle Schnitte, schräge Perspektivwechsel und Großaufnahmen auflöst. Die Orientierungslosigkeit der Hauptfigur überträgt sich umso mehr, als die dunklen Töne der Innenräume deren Enge und das Unangenehme der Situation betonen – Einschränkungen, die im Gegensatz zu „Mommy“ nicht durch ein beherztes Auseinanderschieben des Bildformats aufgebrochen werden.
Tempo und Umfang der oft wild umherfliegenden Ping-Pong-Dialoge hängen auch mit der Bühnenherkunft des Films zusammen, einem Theaterstück des Franzosen Jean-Luc Lagarce von 1990. Anders als in der Vorlage ist es bei Dolan aber nicht mehr eindeutig, dass die homosexuelle Hauptfigur an AIDS erkrankt ist, wie die Adaption auch sonst auf örtliche oder zeitliche Konkretisierungen verzichtet. Stattdessen ist es ein weiteres Mal das innerfamiliäre Konfliktpotenzial zwischen Liebe und Hass, Kommunikationsversuchen und Aneinandervorbeireden, das den Regisseur interessiert. In den wenigen Stunden, die „Einfach das Ende der Welt“ umfasst, wird der Besucher von jedem der anderen vier Familienmitglieder zu intensiven Auseinandersetzungen gezwungen, die ihm auch eigene Verhaltensfehler aufzeigen: Suzanne wirbt verlegen um seine Zuneigung, Antoine kann Gefühle von Minderwertigkeit gegenüber dem berühmten Bruder nicht beherrschen, die Mutter erdrückt ihn mit der Bitte, als Familienvorstand zu agieren.
Mitunter anstrengende Seherfahrung
Unverhofft sieht sich Louis in der Rolle des „verlorenen Sohns“, obwohl er doch gar nicht dauerhaft zurückkehren will. Seine Eröffnung muss er darüber immer wieder verschieben, und einzig seine verhuschte Schwägerin Catherine scheint von sich aus zu ahnen, warum er gekommen ist. Länge und Wucht der verbalen Schlagabtäusche machen den Film zu einer mitunter anstrengenden Seherfahrung, doch gewährt Dolan immer wieder kurze Augenblicke des Durchatmens. Dann übertönt die suggestive Musik von Gabriel Yared mit einem Mal die Dialoge und hebt den Austausch von Blicken und Gesten stärker in den Vordergrund, was innerhalb des hervorragenden Ensembles vor allem dem subtilen Spiel von Gaspard Ulliel als Louis und Marion Cotillard als Catherine zugute kommt.
Diese retardierenden Momente helfen auch der Hauptfigur, den eigenen Part innerhalb des Familiengefüges zu hinterfragen, und nicht um jeden Preis auf ihren Absichten zu beharren. Vielleicht ist es das, was Xavier Dolan meint, wenn er „Einfach das Ende der Welt“ als seinen ersten „erwachsenen Film“ bezeichnet. Die Art, wie er seine Figuren darin im Gegensatz zu früheren Werken von jugendlichem Narzissmus freihält, verrät jedenfalls, dass er sich als Filmemacher erneut auf ebenso überraschende wie begeisternde Weise weiterentwickelt hat.