Dokumentarfilm | Österreich 2015 | 100 Minuten

Regie: Constantin Wulff

Eineinhalb Jahre lang beobachtete Constantin Wulff die Kinder- und Jugendpsychiatrie im niederösterreichischen Landesklinikum Tulln. Sein Dokumentarfilm reiht mit respektvoller Distanz, Geduld und klarer Bildsprache Szenen des Klinikalltags aneinander, wobei er die soziale Interaktion zwischen Ärzten, Therapeuten und Patienten in den Mittelpunkt rückt. Statt den Einzelfällen nachzugehen, die von schwerer Selbstverletzung bis zu Angst- und Suchtstörungen, oft verbunden mit dem Verdacht auf Missbrauch und Misshandlung, zeugen, beschreibt er die kollektive Anstrengung, mit den seelischen Extremzuständen umzugehen. Dabei eröffnen sich außerordentliche autonome Räume, die ein Gegengewicht zu den bedrückenden Fakten schaffen. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
WIE DIE ANDEREN
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Navigator Film
Regie
Constantin Wulff
Buch
Constantin Wulff
Kamera
Johannes Hammel
Schnitt
Dieter Pichler
Länge
100 Minuten
Kinostart
09.06.2016
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Von Geduld und Respekt zeugende Langzeit-Dokumentation über eine Jugendpsychiatrie. Regie: Constantin Wulff

Diskussion
„Ich heiße Leonie“: Damit beginnt der Junge seine Geschichte. Leonie ist anders als die anderen Kinder. Sie nehme sich als seltsam wahr und registriert von allen Seiten skeptische Blicke. Während der Junge, über eine Zeichnung gebeugt, das Innenleben der fiktiven Person ergründet, führt eine Therapeutin Protokoll. Leonies Bericht endet mit einem dringlichen Wunsch: „Ich hoffe, ich werde mich bald ändern, so dass ich wie die anderen sein kann.“ Über eineinhalb Jahre hat der Regisseur Constantin Wulff den Alltag der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie im niederösterreichischen Landesklinikum in Tulln unweit von Wien verfolgt. Sein Film steht ganz in der Tradition der Institutionen-Porträts eines Frederick Wiseman (dem im Abspann gedankt wird), es gibt weder Interviews noch Off-Kommentare. Mit respektvoller Distanz werden Szenen eines Klinikalltags aneinandergereiht: Behandlungsgespräche, Patientenbeobachtungen, therapeutische Übungen, Teambesprechungen, aber auch einsame Büroarbeit. So dramatisch die geschilderten Fälle auch sind, von schweren Selbstverletzungen bis hin zu Angst- und Suchtstörungen, oftmals verbunden mit dem Verdacht auf Misshandlung oder Missbrauch: Die Haltung des Films ist stets ruhig und unaufgeregt – und gerade darin empathisch. In klaren, aber nie sterilen Totalen nimmt Wulff wiederholt den Raum in den Blick; er zeigt die meist leeren Gänge, den Medikamentenraum, die Mensa, die Dienstzimmer. In den Gesprächsszenen kommt die Kamera hingegen sehr nahe, beobachtet aufmerksam Gesten, Gesichter, Sprechweisen, die Pausen, das Schweigen, das Suchen nach Worten auf Seiten der Patienten, die professionelle Rhetorik des Personals – kurz: all den Stoff, der soziale Interaktion mitgestaltet. Doch selbst wenn die mobile Kamera von Johannes Hammel in Gesprächssituationen mitunter von einem Gesprächspartner zum anderen schwenkt, wirkt das nie hektisch oder gar authentizitätsheischend. Bis auf wenige Außenaufnahmen der Klinik verlässt der Film nie den Schauplatz. Das Außen ist jedoch ständig präsent. Etwa in den Schilderungen der Ärzte und Therapeuten über das familiäre Milieu der Patienten, in den wiederholten Diskussionen über die Grenzen der Zuständigkeiten, in den Gesprächen über das „Danach“. Wie bei Sophie, einem schwer bulimischen Mädchen, das sich zwanghaft die Arme ritzt und kaum einen Tag ohne „Speien und Schneiden“ auskommt. Die Zuständigkeit der Jugendpsychiatrie wird für das Mädchen bald enden, ihr Arzt empfiehlt den nahtlosen Übergang in eine Einrichtung für Erwachsene. Sophie sieht das anders. Andere Patientengeschichten werden nur sprachlich vermittelt. Wulff geht es nicht um die individuelle Krankheitsgeschichte, die in diesem Rahmen ohnehin nur lückenhaft und verkürzt bleiben kann, sondern eher um die Funktionsweisen des Betriebs. Um das Spannungsverhältnis von Routinen, Druck, Belastungen – unter anderem durch den Fachärztemangel –, um emotionale Anteilnahme und verantwortungsbewusstes Handeln. Dass sich all die bedrückenden Fakten – dazu gehört auch die Fixierung eines Patienten, die man über einen Überwachungsmonitor zu sehen bekommt – nicht zu einem deprimierenden Bild verengen, verdankt sich Wulffs Gespür für Zeit, seiner Geduld und nicht zuletzt der Aufmerksamkeit für die autonomen Räume, die sich in den Therapieübungen immer wieder auftun. Dabei werden die Kinder und Jugendlichen aufgefordert, Stimmungsbilder aus Gegenständen zusammenzusetzen und Zeichnungen erzählerisch zu interpretieren. Ein Junge soll mit Spielfiguren Szenen aufführen – „Du bist jetzt der Regisseur.“
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