Manchmal sind es die Blicke anderer, die etwas Unschuldiges ins Gegenteil verkehren. Und so wird der etwa zwölfjährigen Lale und ihren vier älteren Schwestern ein Moment voller Lebensfreude zum Verhängnis. Toben im blau glitzernden Meer mit Schulkameraden – eigentlich nichts Schlimmes, sollte man meinen. Wenn die Strukturen in der türkischen Provinz nur nicht so traditionell-konservativ wären und die Nachbarin nicht alles gesehen und brühwarm der Großmutter erzählt hätte. In deren Haus an der türkischen Schwarzmeerküste sind die Mädchen seit dem Tod ihrer Eltern bislang frei und unbeschwert aufgewachsen, nun aber sind sie zu weit gegangen: „Ihr habt euch an den Jungen gerieben!“
Es hagelt Vorwürfe, Ohrfeigen, Beschimpfungen. Der empörte Onkel, dessen selbstgerechte, im Film etwas plakativ wirkende Doppelmoral später deutlich werden wird, bringt seine Nichten ins Krankenhaus, wo sie untersucht werden. Ihre unversehrten Jungfernhäutchen sind Garant für den guten Ruf der Familie, für den Wert der Mädchen auf dem Heiratsmarkt, der nun eilig eröffnet wird – bevor es zu spät ist.
Für ihr Spielfilmdebüt hat sich die in der Türkei geborene und in Frankreich aufgewachsene Regisseurin Deniz Gamze Ergüven gewiss kein neues Sujet ausgesucht: Filme über unterdrückte muslimische Mädchen und Frauen – man denke etwa an „Die Fremde“ (
(fd 39 753), 2010) von Feo Aladag – gibt es viele. Doch auch wenn die Regisseurin mitunter auf gängige Metaphern zurückgreift, findet sie einen eigenen Zugang. Trotz aller Brisanz vermittelt ihr Film in warmen Farben und sommerlich flirrenden Bildern ein überraschendes Gefühl von Freiheit und Lebensfreude – und damit genau das, was sich die fünf Schwestern den Umständen zum Trotz erhalten wollen. Denn erst verschwinden ihre Computer, Handys und Schminktäschchen, dann werden ihre Jeans gegen unförmige Kleider getauscht, und schließlich wird das Haus eingezäunt, vergittert, zugemauert, gleichsam zu einer Festung. Statt Algebra und Englisch lernen sie nun, wie man kocht, putzt, näht und freundlich lächelnd Tee serviert. Ihr Zuhause ist eine „Fabrik für Ehefrauen“ geworden, wobei sich ihre Welt auch bildlich durch viele Naheinstellungen zunehmend verengt. Nicht nur der Körper der Mädchen soll kontrolliert werden, sondern auch ihr Freiheitsbestreben, ihr Inneres, ihre, wenn man so will, Seele. Ziel ist eine gefügige Ehefrau in spe. Doch ganz so einfach ist das nicht, denn die Mädchen sind – jede auf ihre Art – widerspenstig. Sonay reißt sich einen Schlitz ins Kleid und entflieht nachts zum heimlichen Rendezvous. Wie man Sex haben kann, ohne seine Jungfräulichkeit zu verlieren, weiß sie auch.
Zusammen mit Selma rekelt sie sich auf der vergitterten Terrasse in der Sonne. Nur und Lale springen in die Fluten einer rosa Decke, ist das echte Meer doch in unerreichbare Ferne gerückt. Als die Schwestern zu einem Fußballspiel ausreißen, werden sie ausgerechnet von den Frauen gedeckt, die sie eigentlich in den traditionellen Geschlechterrahmen pressen und damit die überholte Gesellschaftsform stützen. Doch vor allem ihr unerschütterlicher Zusammenhalt gibt den Mädchen Halt und Kraft. Entsprechend inszeniert die Regisseurin sie in all ihrer Schönheit sinnlich, aber nie sexualisiert, oft eng umschlungen – und gleicht damit Sofia Coppolas „The Virgin Suicides“ (
(fd 34 539), 1999), wobei Lale und ihre Schwestern weniger Projektionen als vielmehr bodenständige Teenager sind. Die Regisseurin sieht in ihren Heldinnen „eine Art Monster mit fünf Köpfen, das nach und nach seine Glieder verliert“. Denn die Zeit spielt gegen die Mädchen. Die arrangierten Ehen rücken unweigerlich näher. Erst verlassen Sonay und Selma als verheiratete Frauen das Haus, dann ist Ece an der Reihe, die ihrem Schicksal aber auf drastische Weise entkommt. Die Flucht ist im Genre des Gefängnisfilms das, worauf alles hinausläuft, und in „Mustang“ wird dabei ausgerechnet Lale zur treibenden Kraft. Sie, die Jüngste der Schwestern, sieht mit klarem Blick eine Zukunft, die sie nicht leben will. Anfangs mit kindlichem Trotz, dann aber immer zielstrebiger kämpft die kleine Rebellin für ihr Recht auf ein selbstbestimmtes und freies Leben. Nicht zuletzt damit verweist „Mustang“ über den gesellschaftlich-politischen Rahmen der Türkei hinaus in die westliche Welt, in der Mädchen und Frauen noch oft genug für Gleichberechtigung und gegen Sexismus kämpfen müssen.