Der Dokumentarfilmer Andreas Voigt kehrt 18 Jahre nach den Filmen seiner „Leipzig-Reihe“ (1986-1997), in denen er Leipziger Bürger durch die Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs begleitete, noch einmal in die Stadt zurück. 25 Jahre nach der Wiederbegegnung trifft er drei seiner einstigen Porträtierten erneut, fragt, was aus ihnen wurde und was sich seitdem in Leipzig getan hat. Der seit der Wende fast durchgängig arbeitslose Jens lebt in Velbert; Isabell, früher „Grufti“ und „eher links“, arbeitet als Insolvenzverwalterin in Stuttgart; Redakteurin Renate hat sich 2001 das Leben genommen, nun versucht ihre Tochter, sich Klarheit über die IM-Tätigkeit der Mutter zu verschaffen. Der Film fällt keine moralischen oder politischen Urteile, sondern zeigt Verwerfungen und blickt auf von der Zeit geschlagene Wunden. Für Vogt ist der Dokumentarfilm der Abschluss seiner umfassenden filmisch-soziologischen Betrachtungen. Die weiteren Filme der „Leipzig-Reihe“: „Alfred“ (1986), „Leipzig im Herbst“ (1989), „Letztes Jahr Titanic“ (1990), „Glaube Liebe Hoffnung“ (1993), „Große weite Welt“ (1997).
- Ab 14.
Alles andere zeigt die Zeit
Dokumentarfilm | Deutschland 2015 | 99 Minuten
Regie: Andreas Voigt
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2015
- Produktionsfirma
- A Jour Film
- Regie
- Andreas Voigt
- Buch
- Andreas Voigt
- Kamera
- Sebastian Richter
- Schnitt
- Kathrin Dietzel
- Länge
- 99 Minuten
- Kinostart
- 28.01.2016
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Heimkino
Andreas Voigt bündelt seinen Leipzig-Zyklus
Diskussion
Bereits als Filmstudent war Andreas Voigt von der Stadt Leipzig und ihren Bewohnern fasziniert. Der 1953 in Mitteldeutschland geborene Regisseur hatte zunächst in Krakau Physik und Wirtschaft in Ost-Berlin studiert, bevor er einen der begehrten Studienplätze an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg ergatterte. In seinem Diplomfilm „Alfred“ porträtierte er 1987 einen Leipziger Arbeiter, der vor und nach 1945 mehrfach mit der Parteilinie kollidierte, aus KPD und SED ausgeschlossen wurde und dennoch an seinen kommunistischen Idealen festhielt. Schon damals machte der angehende Filmemacher anhand von Einzelschicksalen zeitgeschichtliche Relevanz dingfest. Hier, in der sächsischen Provinz, lagen für ihn die Widersprüche der DDR deutlicher zutage, zeigten sich viel zugespitzter als in der mit Privilegien ruhiggestellten Hauptstadt.
Als dann im Oktober 1989 die Demonstrationen gegen die SED-Herrschaft immer mehr Menschen mobilisierten, zog es ihn wieder in die Messestadt. Mit seinen Kollegen Gerd Kroske und Sebastian Richter sowie einer schweren 35mm-Kamera tauchte Voigt mitten ins Geschehen ein, von dem damals noch niemand wusste, welchen Ausgang es nehmen würde. Ergebnis war der Film „Leipzig im Herbst“ – die Basis für den inzwischen auf fünf Kapitel angewachsenen Leipzig-Zyklus. „Letztes Jahr Titanic“ (1991), „Glaube Liebe Hoffnung“ (1994) und „Große Weite Welt“ (1997, fd 33 058) kreisen um einen Korpus von Personen, die in den einzelnen Kapiteln unterschiedlich intensiv im Mittelpunkt stehen. Bei „Alles andere zeigt die Zeit“ rücken nun drei der früheren Interviewpartner in den Fokus. Sie leben heute nicht mehr in Leipzig.
Sven bleiben nach Abzug aller Fixkosten zwischen 180 und 210 Euro im Monat zum Leben. Wenn er zum Fußball oder auf ein Konzert will, muss er sich diesen Luxus buchstäblich vom Munde absparen. Er geht wegen einer verpfuschten Hüftoperation an Krücken, hat ein beträchtliches Vorstrafenregister und ist seit den 1990er-Jahren, von einigen Unterbrechungen abgesehen, arbeitslos. Sein über und über von martialischen Tätowierungen bedeckter, in zahllosen Sportstudio-Stunden aufgepumpter Oberkörper steht in merkwürdigem Widerspruch zu seiner gebrechlichen Gangart. An diesem Menschen scheint nichts mehr zusammenzupassen. Als hätten Beine und Arme irgendwann begonnen, auseinanderzudriften und dabei mehr und mehr ihr Zentrum verloren.
Neben Jens (von dem der Filmtitel stammt) geht es in Voigts jüngsten Film um Renate und Isabell. Als einzige des Trios hat Isabell es „geschafft“. Sie ist im neuen Deutschland angekommen und hat gründlich gelernt, sich hinter Panzern der Bürgerlichkeit zu verschanzen. Früher war sie in Leipzig als schwarz gewandeter „Grufti“ unterwegs und verstand sich „eher als links“; heute arbeitet sie als Insolvenzberaterin in Stuttgart und rast mit einem weißen Mustang-Cabrio über die schwäbische Alb. Ihre Wohnung wirkt wie der Musterraum eines Einrichtungshauses. Das letzte ihr verbliebene Wesen scheint die Riesenspinne „Sandy“ im Terrarium zu sein.
Renate ist nur in alten Aufnahmen zu sehen – die einstige Redakteurin der Leipziger Volkszeitung und Sachbuchautorin nahm sich 2001 das Leben. Ihre Tochter Jenny versucht durch Einsicht in die Stasi-Akten Klarheit über die Verstrickungen ihrer Mutter zu finden. Das ist nicht einfach. Auch Renates Mann arbeitete für die Stasi, drängte offenbar seine Frau zur IM-Tätigkeit. Später kam es zu einer sexuellen Nötigung durch ihren Führungsoffizier, die Renate in früheren Filmen als Erpressung zur Mitarbeit erklärte und sich selbst damit vom Täter zum Opfer umdeutete. Ihre Tochter ist sich da nach der Lektüre der Unterlagen nicht mehr so sicher.
Doch Voigt geht es weder um Investigation noch um moralische oder politische Urteile. Er zeigt die Verwerfungen auf, die von der Zeit geschlagenen Wunden und ihre Narben. Die Bilanz seiner „Helden“ aus Leipzig, die vom Revolutionsherbst 1989 bis heute immer wieder vor seine Kamera treten, um über ihr Leben zu berichten, fällt erwartungsgemäß ernüchternd aus. Der Regisseur schafft es mit seiner Chronik allerdings, den Grundton eines bloßen Lamentos über verpasste Chancen und gescheiterte Hoffnungen zu vermeiden. Nostalgie ist seine Sache nicht. Seine Bestandsaufnahme hat inzwischen viel mehr mit unserer Gegenwart als mit der DDR-Vergangenheit zu tun.
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