„Große Lust habe ich nicht auf die Veranstaltung“, sagt Yoshino beiläufig zu ihrer Schwester Chika. Sie sind mit dem Zug auf dem Weg nach Yamagata. Sie lachen, essen und versuchen sich zu erinnern, wie meistens, wenn sie zusammen sind. An ihren Vater, zu dessen Beerdigung sie fahren. 15 Jahre lang haben Yoshino, Chika und ihre ältere Schwester Sachi ihren Vater nicht gesehen und auch keinen Kontakt zu ihm gehabt. Vage wissen sie, dass er zuletzt mit seiner dritten Frau gelebt haben muss. Aber dass die drei jungen Frauen noch eine 14-jährige Halbschwester haben: das ist neu für sie. Freundlich werden sie von Suzu in Yamagata empfangen, und schnell wird deutlich, dass Suzu ihren Vater in den letzten Monaten gepflegt hat. Beim Abschied fragt Sachi spontan, ob Suzu nicht bei ihnen leben wolle, in dem großen alten Haus, in dem sie seit dem Umzug ihrer Mutter alleine leben. Und Suzu sagt ja. So finden sie in dem gewohnt ruhig erzählten Familien- und Frauenfilm von Hirokazu Kore-eda zusammen, die älteren Schwestern, die sich erst von ihrem Vater und später auch von ihrer Mutter im Stich gelassen fühlen, und die noch jugendliche Schwester, die ihren Vater liebte, aber wütend auf ihre Mutter ist. Schon in Kore-edas „Nobody Knows“ (fd 36 980) ging es um abwesende Eltern. Doch während dieses erschütternde Drama um mehrere Kinder die existenziellen Folgen beschrieb, als sie von ihrer Mutter ohne Ankündigung allein in der Wohnung zurückgelassen werden und urplötzlich auf sich selbst gestellt sind, erzählt „Unsere kleine Schwester“ erstaunlich versöhnlich von den Fehlern der Eltern und deren Auswirkungen auf die Kinder. Die Kindheit sei ihnen von den Erwachsenen genommen worden, heißt es einmal. Nun müssten sie sich diese wieder zurückholen. Trotzdem führt der Weg der Geschwister nicht zurück, sondern nach vorne. Das Mysterium des verantwortungslosen Vaters wird nach und nach entzaubert. Aus der Sichtweise von Suzu erscheint dieser plötzlich nicht mehr nur als verantwortungsloser Lebemann – und für die älteren Geschwister wird Suzu zu einem Geschenk. „Umimachi Diary“, zu deutsch „Tagebuch einer kleinen Küstenstadt“, lautet der Titel der Manga-Vorlage von Akimi Yoshida, die sich insbesondere an junge Frauen richtet. Der mit langem Atem erzählte japanische Comic legt dabei viel Wert auf Figurenentwicklung und genaue Beobachtungen. Diese Erzählweise trifft auch auf Kore-eda zu. Unaufgeregt folgt er den Schwestern über mehrere Monate und beobachtet, wie sich ihre Beziehungen im Laufe der Jahreszeiten verändern. In den Mittelpunkt rücken dabei vor allem die älteste und die jüngste Schwester. Längst hat Sachi die Rolle des Familienoberhaupts in der WG übernommen und ist zur „Heimleiterin“ geworden, wie Yoshino einmal augenzwinkernd anmerkt. Ungewollt ist sie in eine Mutterrolle geschlüpft und ähnelt ihrer eigenen Mutter oft mehr, als ihr lieb ist. Zudem scheint sie auch selbst in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten, weil sie ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann hat. Suzu hingegen findet in den älteren Schwestern eine neue Familie und ein Zuhause, das ihr mehr Geborgenheit bietet, als sie bislang gewohnt war. Vor allem Sachi wird für sie zu einer wichtigen Bezugsperson. Und irgendwann darf sie sogar deren Sommerkimono tragen und ihre Größe am Türrahmen markieren, gleich neben Sachi, Yoshino und Chika. Anstatt großer dramatischer Wendepunkte konzentriert sich die Inszenierung ganz auf das scheinbar Nebensächliche, dessen Schönheit und Glück sichtbar wird: eine Fahrt mit dem Fahrrad durch eine Allee voller Kirschbäume, deren Blüten in betörend schönen Farben erstrahlen (und die im japanischen Kino doch gleichzeitig auch immer auf die Vergänglichkeit und den Tod verweisen), den Ausblick von einem hoch gelegenen Lieblingsort, ein Feuerwerk im Garten oder einen Spaziergang am Strand. Die reduzierten Zeichnungen des Mangas übersetzt Kore-edas Kameramann Mikiya Takimoto in stimmungsvolle Bilder. Die sanften, weichen und fließenden Kamerabewegungen verleihen dem Film eine lyrische Qualität, während das grobkörnige Filmmaterial für eine fast schon nostalgische Tönung sorgt. „Unsere kleine Schwester“ kommt ohne die großen inneren Konflikte aus, die noch Kore-edas Protagonisten in „Like Father, Like Son“ (fd 42 583) bei der Auseinandersetzung mit Eltern- und Kinderrollen auszutragen hatten. Wie in „Still Walking“ (fd 39 459) spielt auch hier das gemeinsame Essen eine bedeutende Rolle, vom Einkaufen über die Zubereitung bis zum gemeinsamen Verzehren. Beim Essen trifft man sich, zu Hause und in der Bar, bei der netten alten Köchin, die schon den Vater kannte. Beim Essen wird gelacht und geweint. Essen ruft Erinnerungen hervor und verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit, wenn der Geschmack des mit Fisch belegten Brots Erinnerungen an den Vater weckt und der Jahr für Jahr selbst hergestellte und sorgsam gehütete Pflaumenwein die an die Großmutter. Der feinfühlige Blick für das Alltägliche und die kleinen Gesten zeichnen den Film aus, der durch seine leisen Töne berührt, von einer tiefen Menschlichkeit getragen wird und in dem der Tod auch immer ganz nahe bei den Lebenden steht.