Unter der Haut (2015)

Drama | Schweiz 2015 | 91 Minuten

Regie: Claudia Lorenz

Ein seit 18 Jahren verheiratetes Paar zieht mit seinen Kindern aufs Land. Während sich die Familie allmählich an die neue Umgebung gewöhnt, stößt die Frau auf homosexuelle Tendenzen ihres Ehemanns. Als er sich tatsächlich in einen Mann verliebt, weiß sie nicht, wie sie damit umgehen soll. Das kammerspielartige Drama wird mit lebensnahen Dialogen und feinem Gespür für Zwischentöne vorrangig aus der Sicht der Frau erzählt und bewahrt selbst in den entblößendsten Momenten deren Würde. Allein die Vorliebe für sinnbildliches Erzählen schmälert mitunter die einfühlsame, moralisch nicht wertende Inszenierung. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UNTER DER HAUT
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Peacock Film/SRF/SRG
Regie
Claudia Lorenz
Buch
Claudia Lorenz · Rolando Colla
Kamera
Jutta Tränkle
Musik
Bernd Schurer
Schnitt
Daniel Gibel
Darsteller
Ursina Lardi (Alice) · Dominique Jann (Frank) · Antonio Buíl (Pablo) · Linda Olsansky (Monica) · Nicolas Rosat (Robert)
Länge
91 Minuten
Kinostart
19.11.2015
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. den Kurzfilm "Hoi Maya" (13 Min.) von Claudia Lorenz.

Verleih DVD
Pro-Fun (16:9, 1.66:1, DD5.1 schweizerdt.)
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Drama um eine zerbrechende Familie

Diskussion
Eine Familie zieht aufs Land. Vater, Mutter, drei Kinder. Scherzend tragen sie ihre Möbel in die leeren Zimmer. Trotzdem ahnt man schon zu Beginn, dass das nicht lange gut geht. Noch bevor die fünf das neue Haus betreten, ist bereits etwas anderes da. Die Kamera blickt durch ein Fenster nach draußen auf einen Spiegel, in dem Alice, Frank und ihre Kinder auftauchen: ein munteres, Kartons schleppendes Familienknäuel. Der doppelt gebrochene Blick jedoch kündet Unheil an. Umso mehr, als sich die Kamera danach vom Fenster löst und untermalt von einem bedrohlich anhaltenden Orgelton in den leeren Raum hineingleitet. Wie im Horrorfilm wird das Haus in Claudia Lorenz’ Spielfilmdebüt zum Protagonisten. Allerdings ohne dass es zum Leben erwacht. Der Spuk, der sich in seinen Räumen abspielt, ist ein menschlicher. Zufällig entdeckt Alice im Browserverlauf des Familiencomputers schwule Internetseiten. Als sie ihren Sohn Luca darauf anspricht, wird schnell klar, dass der damit nichts zu tun hat. Er reagiert viel zu unbefangen. Ganz anders fällt die Reaktion ihres Mannes Frank aus. Alice ist nicht naiv. Ihr ist klar, was das bedeutet. Erstaunlich gefasst und offen geht sie damit um, dass ihr Mann sich für andere Männer interessiert. Je mehr sich Frank jedoch ihren Gesprächen entzieht, desto verzweifelter bemüht sie sich darum, die Situation zu bagatellisieren. Alles halb so schlimm, solange es innerhalb der Familie bleibt. Sogar eine Ménage-à-trois schlägt sie ihm vor. Wahrscheinlich käme sie mit einem Seitensprung klar. Aber dann gesteht ihr Frank das, was sie unter gar keinen Umständen hören will: Er hat sich verliebt. Eine Familie bricht auseinander. Das Haus bereitet die Bühne dafür. Es ist Zentrum und Symbol der Einheit und des Zerfalls. Daher scheint es nur konsequent, dass der Film es so selten verlässt. Die Kämpfe finden innerhalb der vier Mauern statt. Frank, der mit sich ringt, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seiner Familie und der jahrelang unterdrückten Sehnsucht. Alice, die nicht nur Angst hat, ihren Mann zu verlieren, sondern fast noch mehr fürchtet, dass er nie wirklich bei ihr war. Luca, der Erstgeborene, das womöglich unerwünschte Kind, das dem Vater das Leben zerstörte. Und alle gegeneinander. Claudia Lorenz erzählt das in lebensnahen Dialogen und mit feinem Gespür für Zwischentöne und Leerstellen. Wenn ein Blick schon alles sagt, muss sie diesem nicht auch noch mit einem Kameraschwenk folgen. Die Schweizer Regisseurin vermeidet dramaturgische Klischees, die gerne in den Details lauern, etwa beim Aufeinandertreffen von Alice und Pablo, Franks Geliebtem. Nur gelegentlich kommt der Regisseurin ihre Vorliebe für Fenster und Spiegel wie überhaupt fürs sinnbildliche Erzählen in die Quere. Das kann dann schon mal fürchterlich plakativ geraten. Einmal kramt Alice eine Audiokassette hervor, die sie und Frank vor 18 Jahren bei ihrer Hochzeit aufgenommen haben. Beschwipst vor Glück verkünden beide, was sie sich von ihrer Ehe wünschen. Als Frank an der Reihe ist, leiert das Band aus und der Kassettenrekorder schaltet sich ab. Anders als vergleichbare Dramen, etwa „Freier Fall“ (fd 41 734) von Stephan Lacant oder „Beauty“ (fd 40 926) von Oliver Hermanus erzählt „Unter der Haut“ das Coming Out eines Familienvaters nicht aus der Sicht des Mannes. Es ist Alice, die allein im Haus zurückbleibt, den Halt verliert, zusammenbricht, sich mit Hilfe ihrer Kinder zusammenzuraufen versucht. Ursina Lardi spielt das herausragend gut. Noch in den verzweifeltsten, entblößendsten Momenten bewahrt sie die Würde ihrer Figur. Nie trägt sie zu dick auf. Aber auch Dominique Jann interpretiert Frank als einfühlsamen, liebenswerten Menschen. Da gibt es keine Bösewichte (die engstirnige Ehefrau), keine Schuldigen (den egoistischen Betrüger). Doch auch wenn die Inszenierung auf moralische Wertungen verzichtet, sich auf keine Seite schlägt, lösen sich die Konflikte und der Schmerz deshalb nicht in Wohlgefallen auf. Im wahren Leben, dem das Drama über die Schulter schaut, geht es selten zu wie in einer französischen Sommerkomödie. Wenn die Familie zerbricht, tut das entsetzlich weh. Und am meisten denjenigen, die zurückbleiben. Im Haus. Was dann irgendwann vielleicht nach dem Schmerz kommt, das ist eine andere Geschichte, die „Unter der Haut“ nicht mehr erzählt.
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