Traurig bleibt der 94-jährige Benjamin Ferencz auf dem Salzburger Petersfriedhof vor dem Familiengrab von Elisabeth und Eduard Büchlmann stehen. Die Inschrift, die von zwei 1941 in Russland gefallenen Söhnen zeugt, habe ihn berührt, weil sie so viel vom Leid der Eltern und den Schrecken des Krieges verrate.
Das Porträt eines der wichtigsten Akteure für die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern beginnt mit Einzelschicksalen. Nicht mit denen von Opfern, für die Ferencz als Ankläger bei den Nürnberger Prozessen Gerechtigkeit forderte, sondern mit der Gegenseite, den Soldaten, die für den Genozid an der Ostfront mitverantwortlich waren. Ferencz, der das „difference“ schon im Namen trägt, kämpfte an allen Fronten – und er weiß, wovon er spricht: 1944 wurde er als amerikanischer Flak-Soldat in Frankreich demobilisiert, um Beweise für die deutschen Kriegsverbrechen zu sammeln. Drei Jahre später war er mit 27 Jahren der jüngste Chefankläger im „Einsatzgruppen“-Nachfolgeprozess in Nürnberg, wo er 24 SS-Befehlshaber für ihre kaltblütigen Massenmorde in der besetzten Sowjetunion zur Rechenschaft zog. Ein Vorläufer von Fritz Bauer, nur dass Benjamin Ferencz nicht einen Staat, sondern ein globales System gegen sich hatte.
In einer Welt, in der die multilateralen Gemengelagen eher zu- denn abgenommen haben, ist das Argument, als Einziger nichts ausrichten zu können, als Erklärung für die eigene Erstarrung schnell zur Hand. Der Film von Ullabritt Horn hingegen porträtiert in einer unaufgeregten Kompilation aus Interviews, Archivmaterial und aktuellen Auftritten einen Menschen, der eben doch „einen Unterschied zu machen weiß“. Wahrscheinlich auch dank seiner individuellen Prägung: Unter Tränen berichtet Ferencz, welches Glück er als Kind rumänisch-jüdischer Einwanderer in der USA hatte, wegen seiner guten Leistungen für eine Hochbegabtenschule ausgewählt worden zu sein, obwohl seine Familie im verrufenen „Hell’s Kitchen“-Viertel von New York in bitterster Armut lebte.
Viele Gangs hatten damals Hunde als Maskottchen, manche hatten ihn, witzelt Ferencz, und führt seine körperliche Unterlegenheit als Antrieb dafür an, immer der Beste sein zu wollen. Sein lebenslanges Engagement für die Schwächsten lässt sich wohl auch in diesem „Geschenk“ der Kindheit verorten. Ferencz stieß die Reparationszahlungen für jüdische KZ-Opfer und die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag mit an. Und er setzt sich bis heute für die Ächtung von Angriffskriegen ein, womit Ferencz’ eindringliche Appelle neben seinem eigenen Flüchtlingsschicksal ganz aktuelle Bezüge bekommen.
Ob er in den Gesichtern der KZ-Insassen, die ihm bei seinen Recherchen kurz nach Kriegsende begegneten, auch sich selbst gesehen hat? Vielleicht rührt seine Bejahung der Todesstrafe ja auch daher, dass er dem Schrecken eines staatlich verordneten Terrors mit der staatlich legitimierten Kapitalstrafe begegnete? Auch die Regisseurin kommentiert die Selbstinszenierung des eloquent humorvollen, klugen Mannes nicht, weder sein Ja zur Todesstrafe noch Ferencz’ Geschwindigkeitsrekord bei der Urteilsverkündung in Nürnberg, „der hoffentlich nie gebrochen wird.“
Benjamin Ferencz gefällt sich in seiner Rolle als Ankläger der Weltgeschichte, bleibt dabei aber immer sympathisch auf dem Boden, weil er die posttraumatischen Folgen dieser grausamen Zeit für sich selbst nicht vergisst. Enthusiastisch, liebevoll, zäh und furchtlos, so nennen ihn seine Kollegen am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Die schrecklichen Bilder, die sich damals so tief in ihn eingebrannt haben, spornen Ferencz bis heute so sehr an, als wäre dieser kleine Körper mit dem großen Geist tatsächlich noch ganz jung: „Und wenn sie die Eingangstür verschließen, dann kommen wir eben durchs Fenster.“