Es ist eine lästige Aufgabe, aber James Bulger nimmt sie selbst in die Hand: Eine junge Prostituierte könnte eventuell der Polizei etwas über die kriminellen Machenschaften Bulgers bei einem Polizeiverhör preisgegeben haben und soll beseitigt werden. Das weiß Bulger vom Stiefvater, der zu seiner Bande gehört, und gemeinsam locken sie die naive junge Frau in ein leerstehendes Haus. Bulger tötet sie mit bloßen Händen, während der Stiefvater dabeisteht.
Die Szene dieses Mordes, den Bulger mit verstörend kaltschnäuziger Beiläufigkeit ausführt, gehört zu den unheimlichsten Momenten in diesem Gangsterfilm und bringt drastisch auf den Punkt, wer dieser unauffällige Mann mit Stirnglatze und Brille ist. Gab es einmal eine Zeit, in der ein Menschenleben für Bulger einen Wert hatte? Zumindest FBI-Agent John Connolly ist davon überzeugt, dass der Gangster eigentlich ein anständiger Kerl ist, loyal gegenüber Freunden, der sich um die Nachbarschaft kümmert. Connolly kennt den irischstämmigen „Jimmy“, wie er ihn kumpelhaft nennt, und seine Familie schon seit seiner Kindheit, weil beide im selben Viertel in South Boston aufgewachsen sind. Und ist nicht Jimmys älterer Bruder ein allgemein respektierter Politiker? In einer Stadt, in der das organisierte Verbrechen fröhliche Urstände feiert, ist Bulger für Connolly kein Feind, sondern ein Verbündeter: Er geht einen Deal mit ihm ein, um an die italienische Mafia heranzukommen und für „Ordnung“ zu sorgen. Den berechnend-kalten Killer und Machtmenschen Bulger kann oder will Connolly offensichtlich nicht sehen – schon deshalb nicht, weil er zunächst von der Partnerschaft mit dem Gangsterboss profitiert. Andere beim FBI sind weniger von Bulger eingenommen, und als dieser nach einem Schlag gegen die Mafia skrupelloser denn je die Bostoner Unterwelt dominiert, kann Connolly nicht verhindern, dass Bulger ins Fadenkreuz der Behörde gerät.
Scott Coopers Film beruht auf Tatsachen: James „Whitey“ Bulger, Kopf der „Winter Hill Bande“, wurde 1929 geboren, verbüßte schon in jungen Jahren wegen eines Bankraubs eine Gefängnisstrafe und begann 1975, fürs FBI als Informant zu arbeiten – und nebenbei die kriminelle Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Als die Klüngelei in den 1990er-Jahren aufflog, floh Bulger aus Boston und konnte sich bis 2011 einer Verhaftung entziehen. Eine spektakuläre Gangster-Vita, die schon vor „Black Mass“ ein popkulturelles Echo fand: Martin Scorsese ließ in die Gestaltung des von Jack Nicholson verkörperten Gangsterbosses in „Departed – Unter Feinden“
(fd 37 938) Bulgers Vorbild einfließen. Auch die Fernsehserie „Brotherhood“ (2006-08) ließ sich von der Beziehung des ungleichen Bulger-Brüderpaars inspirieren. In „Black Mass“ spielt letztere nur eine Nebenrolle, auch wenn der Part des wohlangesehenen Politikers mit Benedict Cumberbatch prominent besetzt ist. Stattdessen liegt das Gewicht auf der Beziehung des Gangsterbosses, der von Johnny Depp gruselig, reptilartig emotionslos verkörpert wird, zur interessantesten Figur des Films: dem von Joel Edgerton gespielten FBI-Mann Connolly, der sich zum Steigbügelhalter Bulgers machen lässt. Edgerton kreiert das faszinierend vielschichtige Porträt eines Mannes, der eigentlich nichts Böses will, durch eine Mischung aus falsch verstandener Solidarität mit „alten Freunden“, Selbstüberschätzung und Eigennutz jedoch zum Mittäter eines der meistgefürchteten Verbrecher der Ostküsten-Metropole wird. Wie Connolly langsam dämmert, mit wem er da einen Pakt geschlossen hat, und wie langsam Angst und Verunsicherung in die kumpelhafte Attitüde kriechen, das arbeitet Edgerton im Einklang mit Regie und Drehbuch eindrucksvoll heraus.