Abluka - Jeder misstraut jedem

Drama | Türkei/Frankreich/Katar 2015 | 119 Minuten

Regie: Emin Alper

Nach einem Erdbeben in Istanbul spitzen sich Verunsicherung und Erschütterung unter den Menschen in den heruntergekommenen Vorstädten beängstigend zu. Während ein älterer Mann nach 20 Jahren aus dem Gefängnis in seine Heimatstadt zu seinem einen Bruder zurückkehrt, erschießt ein Hundefänger in Scharen umherstreunende wilde Hunde. Beklemmender Paranoia-Thriller mit Science-Fiction-Elementen, die sich auf ungewohnte Weise zum Bild einer Gesellschaft auf unsicherem Grund verdichten. Dabei kreiert er eine bizarre Welt aus Misstrauen, Hilflosigkeit und Angst, in der Gewalt allgegenwärtig ist und sich Analogien auf die aktuellen politisch-kulturellen Verhältnisse in der Türkei aufdrängen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ABLUKA
Produktionsland
Türkei/Frankreich/Katar
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Liman Film/Paprika Films/Insignia Prod.
Regie
Emin Alper
Buch
Emin Alper
Kamera
Adam Jandrup
Musik
Cevdet Erek
Schnitt
Osman Bayraktaroğlu
Darsteller
Mehmet Özgür (Kadir) · Berkay Ates (Ahmet) · Tülin Özen (Meral) · Müfit Kayacan (Hamza) · Ozan Akbaba (Ali)
Länge
119 Minuten
Kinostart
07.09.2017
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Vielschichtiger Paranoia-Thriller aus der Türkei über die alltägliche Gewalt einer unsicheren Gesellschaft

Diskussion
Der Soundtrack von Cevdet Erek ist großartig: Von den ersten Klängen an spielt er mit Reverenzen an den vor allem US-amerikanischen B-Horror der 1970er-Jahre, jener Zeit, in der im Kino noch fast alles möglich schien. Und in der der Kampf gegen Zensoren aller Couleur für eine Weile eher den Charme eines Studenten-Happenings als den eines Überlebenskampfs hatte. Zu Beginn bebt die Erde. Ein alltägliches Phänomen in Istanbul, in diesem Fall auch eine Metapher für erschütterte Menschen und eine Gesellschaft auf unsicherem Grund. „Abluka“ ist ein beklemmender Paranoia-Thriller mit Science-Fiction-Elementen, die auf ungewohnte, gegenüber allen Gewohnheiten distanzierte Weise präsentiert werden. Alles spielt in heruntergekommenen, gesichtslosen Vorstädten am Rand der Stadt, mit Wohnsilos, riesigen Mülllandschaften, brennenden Containern. Der Himmel wird nie blau, der Schneematsch ist schwarz, darüber nieselt es ständig. Smog hüllt das Leben ein, und man rätselt bis zum Ende, ob die Apokalypse bereits stattgefunden hat oder noch bevorsteht. Obwohl „Abluka“ bereits 2014/15 entstand, also nach den Protesten um den Gezi-Park, aber noch vor den wiederholten Parlamentswahlen, der Eskalation des Kurdenkonflikts und dem „Putsch“ vom Sommer 2016, ist der Film erschreckend aktuell. Das hier gezeichnete Bild eines Polizeistaats, in dem Gefangene an mysteriöse Orte verschleppt werden, in dem ein Geheimdienst regiert, jeder jeden bespitzelt, Nachbarn sich gegenseitig denunzieren und Menschen zunehmend an ihre eigenen Lügen glauben, kann gar nicht anders verstanden werden als Analogie auf die aktuellen politisch-kulturellen Verhältnisse in der Türkei. Regisseur Emin Alper kreiert eine bizarre Welt aus Misstrauen, Hilflosigkeit und Angst, in der Gewalt allgegenwärtig ist: Wilde Hunde streunen in Scharen umher, eine der Hauptfiguren ist Ahmet, ein Hundefänger, der im Auftrag der Stadtverwaltung täglich viele Tiere erschießt. Autos brennen, Bomben explodieren, es gibt Polizeiblockaden und wilde Razzien. Die Menschen haben längst aufgehört, die Tür zu öffnen, wenn es klingelt. Jeder wird auf seine spezielle Weise wahnsinnig. Einmal wendet Ahmet sein Gewehr von den Hunden ab und zielt auf die Polizei, während diese in seine Wohnung eindringt. Nach einem Augenblick vollkommener Dunkelheit blickt man in den Lauf der Waffe, unmittelbar bevor er schießt. Die Stoßrichtung ist unzweideutig: „Dieses Land wird wirklich seltsam. Jeder sitzt in seinem Loch und macht irgendwelche kaputten Dinge.“ sagt einmal eine Hauptfigur. So passt der Film zur gegenwärtigen Lage in der Türkei, wo jeden Tag weitere demokratische Spielregeln außer Kraft gesetzt werden. Der Gegenwart zum Verwechseln ähnlich sehend, könnte dies doch auch ein Horror- oder Zombiefilm sein. Oder ein Western. Denn die Hauptfigur, ein älterer Mann, der nach 20 Jahren aus dem Gefängnis in seine Heimatstadt zu seinem einen Bruder zurückkehrt, ist ein einsamer Schweiger, mit dem wie mit anderen Western-Charakteren nicht zu spaßen ist. Es handelt sich bei ihm aber auch um eine verlorene Seele. Zugleich bleibt Alper ein unzuverlässiger Erzähler: Alles ist möglich, auch dass es sich hier doch „nur“ um einen Albtraum handeln könnte, den der Hauptfigur oder den des Filmemachers. „Abluka“ heißt auf Englisch wie Hitchcocks „Frenzy“: „Wahnsinn“, „Verrücktheit“, mit einem Hauch von Panik. So großartig gemacht, souverän inszeniert und im Vergleich zu Alpers Debütfilm „Tepenin ardi – Beyond the Hill“ (fd 41 364) vollkommen anders in seiner atmosphärischen Anmutung, krass und wahnwitzig und auch ein bisschen tollwütig: gefährlich, verstörend und ansteckend. Alper macht klar: Gewalt ist überall. Wer von ihr erzählen will, muss von der Gesellschaft erzählen, in der sie sich ereignet.
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