Am Anfang ist das Licht. Gleißend-flackernd durchdringt es das künstliche Dunkel eines Berliner Clubs. Ein junges Mädchen im verschwitzten T-Shirt tanzt in den zerhackten Stroboskopblitzen. „Ich will es heute wissen“, sagt jede ihrer Gesten. Was genau, das ist noch nicht so klar, aber am Ende wird sie mehr erfahren haben, als sie je zu träumen wagte.
Diese ersten Sekunden und der Auftritt der Titelheldin zeigen ein Irrlicht, das sich treiben lässt, eine Fremde in Berlin-Mitte: Victoria, eine spanische Studentin, die Heldin des Films, die der Blick der Kamera von nun an nicht mehr loslassen wird, über zweieinhalb Stunden lang.
Die vierte Regiearbeit des vor allem als Schauspieler tätigen Sebastian Schipper ist ein riskanter Film. Ihm liegen zwei Ideen zugrunde, die beide verführerisch klingen, aber auch sehr theoretisch. Zum einen ist der ganze Film in einer einzigen langen Einstellung gedreht, ohne Schnitt, in einem einzigen Sog. Zugleich bringt er vor den Kulissen einer auratisch aufgeladenen Großstadt ein fremdes Mädchen aus einem fernen, aber nicht zu fernen Sehnsuchtsland mit einem proletarischen Kleingangster zusammen, der bei allen Macho-Allüren doch sensibel genug ist, damit sie sich ineinander verlieben. „Außer Atem“ in Berlin.
Riskant ist das in einem durchaus positiven Sinne. Denn Schipper setzt sich damit ohne Not einer Fallhöhe aus, von der andere gar nicht erst herunterstürzen können. Virtuos schreibt er sich ins universale Kinogedächtnis ein und tritt damit selbstbewusst in einen Dialog mit der Filmgeschichte, stellt sich ohne Anbiederung auf Augenhöhe mit dem europäischen Autorenkino.
Wie fruchtbar formale Beschränkungen wirken können, wie eine veränderte Theorie eine andere Praxis kreiert, das haben Bewegungen wie der Neorealismus oder zuletzt „Dogma #95“ bewiesen. Denn das Drehen eines Films in einer Einstellung erzwingt eine enorme Konzentration der Darsteller und zieht eine Angespanntheit und Intensität nach sich, die sich auf den ganzen Film überträgt. Natürlich hätte man später trotzdem noch schneiden können. Doch gerade weil die Kamera nie unterbrochen wird, weil sie gelegentlich mäandert und dadurch „Luft“ in die Bilder und Szenen lässt, überträgt sich der Taumel des Geschehens und die Intensität der Inszenierung auf das Publikum. Der Zuschauer ist mittendrin in diesem nahtlos pulsierenden Driften, zweieinhalb Stunden lang.
Auch wenn Laia Costa in der Titelrolle keine Jean Seberg ist, und Frederick Lau kein Belmondo, und Berlin vermutlich auch kein Paris, so sind die Hauptdarsteller doch interessant genug, um ihnen gern dabei zuzuschauen, wie die Schlinge des Schicksals sich um sie legt und ihre jungen, kurzen Träume erstickt.
Der Plot ist so gradlinig wie das Verhalten der Hauptfigur. Vier Kleinkriminelle lernen gegen vier Uhr nachts eine vollgedröhnte, aber immer noch recht umsichtige Spanierin kennen. Man flirtet, kifft, trinkt bis zum frühen Morgen. Dann kommt heraus, dass einer der vier als Gegenleistung einem Ex-Mithäftling einen Banküberfall schuldet. Weil ein Freund alkoholbedingt ausfällt, macht Victoria an dessen Stelle als vierter „Mann“ mit. Während die drei Jungs zu ängstlich oder zu unfähig sind, behält Victoria den Überblick und wahrt selbst dann noch kühles Blut, als die Polizei auftaucht.
Natürlich ist das alles konstruiert und nicht unbedingt glaubwürdig. Es gibt ein paar Wendungen und Schicksalsschläge zuviel. Alles ist auch ein bisschen zu hektisch, um all den Mythen, die hier beschworen werden, Zeit zur Entfaltung zu lassen. Auch sind die Bilder bei aller Energie mitunter zu ungestaltet, um der Schönheit der reinen Empfindung und des bloßen Gedankens die entsprechenden Aufnahmen zur Seite zu stellen.
Aber: Es ist immer alles möglich in diesem Film. Sein Sog funktioniert und hält an bis zum Schluss. Die Idee, ohne Schnitt zu arbeiten, ist ja nicht zwingend, aber auch nicht „gewollt“, weil es nie als technisches Posieren wirkt. Wenn man erst mal akzeptiert hat, dass „Victoria“ ein Märchen ist, kommt es nicht mehr darauf an, dass manches konstruiert erscheint. Die zunächst untergründig deprimierte Hauptfigur, ein Borderline-Charakter, entdeckt über Nacht eine neue Welt, sie spürt ihrer Tatkraft und Entschlossenheit und staunt dabei am meisten über sich selbst. Wir sehen ihr dabei zu, wie sie sich findet, wie sie zur tapferen, mutigen Heldin wird. Wer nichts riskiert, lebt verkehrt. Victoria weiß das.
„Victoria“ ist damit die schönste Überraschung des deutschen Kinos seit Jahren: ein ungemein mutiger, schöner Film, der von seiner Intensität ebenso lebt wie von seinen Figuren, ihrer existentiellen Verlassenheit und der Verbindung, die sie mit Berlin eingehen, mit der Nacht der Metropole. Hier pulsiert sie endlich, die so oft vermisste Aura des Kinos.
Am Anfang war die Nacht, jetzt ist es Tag und Victoria verschwindet in dessen Licht, ins Offene.