Rauchig tief dringt die Stimme aus dem Dunkel: „Es war einmal ein junges Mädchen…“. So fangen Märchen an, doch der sarkastische Tonfall enthüllt, dass das Folgende nicht auf ein glückliches Ende zusteuern kann. Die elegante Lady Tremaine erzählt in Kenneth Branaghs „Cinderella“-Neuverfilmung ihrer ungeliebten Stieftochter ein echtes Anti-Märchen: Eine Frau hat ihr ganzes Trachten auf eine reiche Heirat gesetzt. Doch zwei Ehen haben ihr nichts als eine doppelte Witwenschaft, untilgbare Sorgen um die Zukunft und zwei eingebildete Töchter eingebracht, die selbst aus Muttersicht nichts Reizvolles besitzen. „Und sie lebten unglücklich bis an ihr Lebensende“ – diese Schlussfolgerung ist von diabolischer Logik: Wo die Aussichten auf Glück so trübe sind, bleibt nur die Intrige als Mittel, das befürchtete Ende doch noch zu umgehen.
Kenneth Branagh lässt Cate Blanchett in der Rolle der bösen Stiefmutter genüsslich in den Fehlschlägen ihres Lebens schwelgen und mit Blicken und Worten wohldosiert ihr Gift versprühen. Ihre Figur gibt sich weltgewandt wie eine Femme Fatale aus dem Film Noir, doch hinter der glänzenden Fassade offenbart sich immer wieder ein Hang zur Vulgarität sowie – trotz all der genau durchdachten Ränkeschmiederei – auch eine gewisse Einfalt: Sie glaubt ausschließlich an die Macht der Bosheit, während man doch miterlebt, dass ihre Stieftochter Cinderella diese selbstbewusst ablehnt und sich gegen jedermann freundlich verhält, getreu dem Rat ihrer verstorbenen Mutter.
Das beschert ihr am Ende nicht nur den Prinzen, sondern verweist auf hintersinnige Weise auch auf die Ausrichtung des Films: Das größte Plus von Branaghs Märchenverfilmung ist ihre uneingeschränkte Aufrichtigkeit. Zu keiner Zeit tun der britische Regisseur und sein Drehbuchautor Chris Weitz so, als wollten sie den Stoff oder die Cinderella-Figur radikal neu interpretieren oder mit Bezügen auf moderne Gesellschafts- oder Frauenbilder aufpolieren. Genau wie bei seinen Shakespeare-Adaptionen und der Marvel-Verfilmung „Thor“
(fd 40 433) hat sich Branagh auch bei „Cinderella“ als kluger Mediator betätigt, der auf die sorgfältige, kongeniale Umsetzung einer erzählerisch reichen Vorlage setzt. Was in diesem Fall heißt: vorurteilsfreie Auslieferung auch an die kitschigen Elemente der klassischen Märchenfassung von Charles Perrault und dessen simple Moral von der Belohnung der Schönen und Guten.
Branagh beweist seine erzählerische Klasse, indem er der Geschichte zwar vertraut, sie aber mit subtil-ironischen Details unterfüttert. Besonders gelungen erscheint dabei der Einsatz der größten Qualitäten des Disney-Stils: etwa die visuelle Überwältigung der Sinne durch eine traumhaft schöne Mise-en-Scène – die farbenprächtigen Kostüme von Sandy Powell sind ebenso ein Augenschmaus wie die prunkvollen Dekors von Dante Ferretti –, kindgerechte Action-Szenen wie die bravouröse, gagreiche Rückverwandlung von Cinderellas Kutsche in einen Kürbis während der rasanten Flucht vor den Palastwachen sowie eine scheinbar unerschöpfliche Auswahl an markanten Sidekicks. Neben köstlichen Nebenfiguren wie einem konfusen Hofmaler und einem pompösen Ausrufer zählen auch Cinderellas tierische Helfer dazu, die aus Disneys Zeichentrickversion
(fd 26 265) in CGI-Geschöpfe transferierten Mäuse, sowie die böse Katze Luzifer, die nach einem glorreichen Entree an der Leine von Lady Tremaine allerdings sang- und klanglos aus der Realverfilmung wieder verschwindet.
Nicht nur darin zeigt sich, dass die gemalte Vorlage der Inszenierung letztlich nur als Inspiration für ihre eigene Variante dient. Während die (menschlichen) Hauptfiguren bei Disney blass blieben, setzt die Neuversion auf eine sensible Interpretation der Figuren. Das betrifft neben Cate Blanchett und Helena Bonham Carter als leicht beduselt wirkender guter Fee sowie Derek Jacobis gütigem König bemerkenswerterweise auch Cinderella und ihren Prinzen. Diese sind zwar weit von der wunderbar introspektiven Darstellung entfernt, die Anna Kendrick und Chris Pine im Märchenmusical „Into the Woods“
(fd 42 922) boten; auch wandelt Lily James’ Cinderella nicht auf den feministischen Pfaden von „Die Eiskönigin“
(fd 42 057). Als Statthalter von Anmut und Güte können Lily James und Richard Madden ihren Figuren aber dennoch unerwartet überzeugende Züge abgewinnen, gerade weil sie diese mitsamt ihren charakterlichen Unschärfen ernst nehmen. Sie fügen sich adäquat in eine zärtliche Inszenierung ein, die nichts weniger als eine mustergültige Version des „Cinderella“-Stoffs sein möchte. Dank überwältigender Schauwerte und seiner künstlerischen Qualität ist das zweifellos gelungen.