Bilder eines zweifelnden Mannes stehen am Anfang. Martin Luther King, der Anführer der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, zupft vor dem Spiegel nervös an seiner Krawatte. Diese kommt ihm ebenso falsch vor wie die Dankesrede, die er bei der Annahme des Friedensnobelpreises halten will; er fühlt sich in dieser Situation viel zu weit vom Ziel seines Kampfes entfernt. Regisseurin Ava DuVernay unterstreicht das, indem sie von der optimistischen Verleihungsgala im Dezember 1964 auf die frappierende Realität der Rassentrennung in den amerikanischen Südstaaten überblendet: der Bombenanschlag auf eine Kirche in Birmingham, Alabama, bei dem vier schwarze Schulmädchen sterben; die behördliche Willkür, die die spätere Aktivistin Annie Lee Cooper daran hindert, sich als Wählerin registrieren zu lassen; Demonstrationen eines ungebändigten Rassenhasses, die auch im Abstand von einem halben Jahrhundert nichts an Eindrücklichkeit eingebüßt haben. Historisch liegen die beiden Ereignisse bei der Nobelpreisverleihung schon ein Jahr zurück, es sind die einzigen Rückblenden in „Selma“. Mit ihnen trifft Ava DuVernay gleich zu Beginn den richtigen Ton, um an den hohen Preis zu erinnern, den der Kampf um die Bürgerrechte der Schwarzen bereits gekostet hat. DuVernay beschränkt sich klugerweise auf einen kurzen, für die Bürgerrechtsbewegung höchst bedeutsamen Zeitraum: die chronologisch erzählten Ereignisse von Januar bis März 1965, in denen King und seine Mitkämpfer von der Southern Christian Leadership Conference ihre Bemühungen auf die Kleinstadt Selma in Alabama konzentrieren. Dort dürfen bis zu diesem Zeitpunkt nur zwei Prozent der schwarzen Bevölkerung wählen. Für die Aktivisten ist jedoch etwas anderes entscheidender: Die berüchtigte Brutalität des Sheriffs und die damit absehbaren Angriffe auf jede Demonstration für die Rechte der Schwarzen. Das verspricht ein landesweites Medienecho und damit ein Druckmittel, um Präsident Lyndon B. Johnson zu zwingen, endlich konkrete Maßnahmen gegen die Rassentrennung zu ergreifen. Ähnlich wie Steven Spielberg in „Lincoln“ versagt sich auch DuVernay jegliche Mythisierung der Hauptfigur: Die zahlreichen Hinterzimmer-Szenen, bei denen um die effektivste Strategie der Bürgerrechtsbewegung gestritten wird, nehmen ähnlich viel Raum ein wie die Konfrontationen mit den gewalttätigen Verfechtern der Rassentrennung. Martin Luther King erscheint neben seiner rhetorischen Begabung auch deshalb als Wortführer des Widerstands, weil er am deutlichsten erkennt, was notwendig ist: eine bestimmte Form der Inszenierung für die Öffentlichkeit, bei der Selma die „Bühne“ und die Eskalation der Gewalt das erforderliche „Drama“ bilden, um auch das weiße Amerika emotional zu erreichen. Diese Momente gehören zu den packendsten, weil es DuVernay und ihrem feinfühligen Hauptdarsteller David Oyelowo gelingt, Kings Vorgehen nicht als zynische Instrumentalisierung der Opfer, sondern als realpolitische Anpassung an die US-amerikanischen Politikgepflogenheiten darzustellen. Wiederholt wird daran erinnert, was für unlautere Methoden die Gegenspieler anwenden. In die Enge getrieben, setzt Präsident Johnson die FBI-Überwachung von King dazu ein, um einen Keil zwischen ihn und seine Frau zu treiben, während Alabamas Gouverneur George Wallace mit rassistischen Milizen paktiert, um die schwarzen Aktivisten einzuschüchtern. Oyelowo meistert die schwierige Gratwanderung, King als bodenständigen Menschen zu zeigen, ohne dessen Strahlkraft und einprägsame Rhetorik zu verbergen. Neben der Eingangssequenz gibt es noch mehrere Momente des Zweifels und der Schwäche von King, in denen es vor allem die Unterstützung seiner Frau Coretta und sein christlicher Glaube sind, die ihn wieder aufrichten. Einmal ruft er abends die Gospel-Sängerin Mahalia Jackson an und bittet sie, ihm mit einem Lied neue spirituelle Kraft zu verleihen – eine stille und eben deshalb berührende Szene. Ähnlich dezent geht DuVernay auch bei der Inszenierung der gewaltsamen Zusammenstöße mit den weißen Hardlinern vor, insbesondere deren brutale Reaktion auf den ersten Versuch der Demonstranten, in die Bundesstaatshauptstadt Montgomery zu marschieren. Die Ereignisse des berüchtigten „Bloody Sunday“ erscheinen authentisch und aufrüttelnd, jedoch fern jeder pathetischen Überhöhung. Die Botschaft des Films ist daher eine versöhnliche: Die Gruppe der schwarzen Bürgerrechtler, in der sich Menschen unterschiedlichster Herkunft und Glaubensausrichtung zusammengefunden haben, agiert nicht gegen die Weißen, sondern will diese von der Berechtigung ihres Kampfes überzeugen und auf ihre Seite ziehen. Friedliches Zusammenleben statt Zweiteilung des Landes – vor dem Hintergrund der jüngsten Rassismusdebatte um den Tod junger Schwarzer durch weiße Polizisten stellt „Selma“ nicht zuletzt auch einen durchaus mutigen Appell dar.