Leonardo ist ungeküsst. So schön märchenhaft nennt es Giovana, seine Freundin und engste Vertraute seit Kindertagen. Das Küssen ist in „Heute gehe ich allein nach Haus“ von Daniel Ribeiro weit mehr als die übliche Teenager-Fantasie, eher ein Wachküssen, ein Ankommen in der Welt, auch im eigenen (sexuellen) Körper.
Der 15-jährige Leonardo ist von Geburt an blind. Seine ängstlichen, übervorsichtigen Eltern haben einen Schutzwall um ihn errichtet, und auch bei Giovana, die ihn jeden Tag von der Schule nach Hause begleitet, gehen Hilfe, Aufmerksamkeit, Abschirmung und Kontrolle nahtlos ineinander über. Wann immer seine Mitschüler böse Scherze mit ihm treiben – einmal wird ihm ein Bein gestellt, ein anderes Mal versucht ein besonders plumper Früh-Chauvie, ihm beim Flaschendrehen einen Hund unterzujubeln – , ist Giovana sofort an seiner Seite. Leos Zukunftspläne, die sogleich den Widerstand der Eltern hervorrufen, ein Austauschjahr in den USA, sind in Wahrheit Fluchtpläne. Er will raus aus der Blase.
Als eine Art „Kontaktmedium“ zur Welt fungiert Gabriel, ein neuer Junge in seiner Klasse, dessen Schönheit Leo natürlich verborgen, ihn aber auch für andere anziehend macht. Er vermittelt Leo visuelle Erfahrungen, die Mondfinsternis oder einen Kinofilm, und er bringt ihm die ersten Tanzschritte bei. Leos anfangs noch diffuses Begehren – er hat schlichtweg kein „Bild“ davon – richtet sich mehr und mehr auf den neuen Freund. Zunächst aber wird es kompliziert: Giovana sieht sich ausgeschlossen; ihre Freundschaft droht zu zerbrechen; und ein anderes Mädchen macht Gabriel Avancen.
„Heute gehe ich allein nach Haus“ erzählt in unaufgeregter Weise von Leonardos „Erwachen“. Die Inszenierung verzichtet konsequent darauf, Leonardos Blindheit durch eine übersteigert sensualistische Bildsprache zu visualisieren; die Bilder sind kunstlos schlicht, ruhig und klar. Berührungen spielen dennoch eine große Rolle und werden eher flüchtig eingefangen. Sie sind dabei keineswegs immer erotisch aufgeladen. In einer schönen Szene hilft der Vater Leo beim Rasieren, beiläufiger lässt sich das kaum erzählen.
Das aus einem Kurzfilm hervorgegangene Drehbuch ist recht vorhersehbar und simpel gestrickt, doch der etwas unambitionierte Ansatz kommt dem Film auch zugute. „Heute gehe ich allein nach Haus“ ist in keinem Moment ein „Blindenfilm“ – ebenso wenig wie er dem Standard einer schwulen „Coming Out“-Geschichte folgt. Selbst wenn er dieser Vorlage dann doch zu entsprechen scheint, etwa in der auf den ersten Blick recht abgenutzt wirkenden Duschszene, gewinnt ihr die Inszenierung eine interessante Variante ab. Der obligatorische Austausch begehrender Blicke gerät hier zu einer einseitigen Angelegenheit, von der Leo nicht einmal etwas mitbekommt.