Dokumentarfilm | Deutschland/Litauen 2013 | 89 Minuten

Regie: J. Jackie Baier

Mehr als zehn Jahre begleitete die Dokumentarfilmerin J. Jackie Baier die transsexuelle Sex-Arbeiterin Julia K. in ihrem Alltag auf dem Berliner Straßenstrich, in Pornokinos, zu Hause sowie bei einer Reise in deren Heimatort in Litauen. In der von vielen Brüchen und langen Kontaktpausen geprägten Annäherung geht es nicht um Themen wie Transsexualität oder Prostitution, vielmehr zeichnet der Film das sehr persönliche, mitunter schmerzvoll anzusehende Porträt einer charismatisch-kompromisslosen, fraglos auch beschädigten Person, ohne deren brachialen, mitunter selbstzerstörerischen Umgang mit sich selbst und ihrer Umwelt moralisch zu verurteilen. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Litauen
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Gamma Bak Filmprod./J.Jackie Baier Filmprod./Just A Moment
Regie
J. Jackie Baier
Buch
J. Jackie Baier
Kamera
Dieter Vervuurt · Thorsten Schneider
Musik
Christopher Franke · Princessin Hans
Schnitt
Steffen Reck · J. Jackie Baier
Länge
89 Minuten
Kinostart
08.01.2015
Fsk
ab 16 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
„Irgendwann war sie verschwunden“, heißt es auf einer Texttafel und dann: „Ein Jahr später“. Das Auf- und Abtauchen ist die wesentliche Bewegung des Films und nicht nur, weil die über zehn Jahre währende Bekanntschaft zwischen der Regisseurin J. Jackie Baier und der aus Litauen stammenden transsexuellen Sexarbeiterin Julia K. von Brüchen und Kontaktpausen bestimmt ist. Julia selbst ist, auch wenn sie fast jede Szene des Films mit ihrem charismatischen Wesen bestimmt, mal da, mal nicht. Wenn sie betrunken ist, was häufig vorkommt, scheint sie an einem anderen Ort zu sein, wirkt abgedriftet oder pöbelt herum. Dann wieder ist sie ganz präsent und wach, eine smarte und eloquente Erzählerin mit einem völlig klaren, gänzlich larmoyanzfreien Blick auf sich und ihr Leben. Trotz Einser-Abitur, Kunststudium und anderen Möglichkeiten begann sich Julia, die sich als „krummes Geschöpf Gottes“ zwischen den Geschlechtern bezeichnet, im Alter von 15 Jahren zu prostituieren, am Hafen von Klaipeda gab es viel Bedarf. Niemand habe sie zu all dem gezwungen, betont sie mehrfach und rühmt dabei die Freiheiten selbständiger Arbeit auf dem Transenstrich an der Berliner Bülowstraße, auch wenn die Gewalt zugenommen habe. Die Opfer-Position ist Julia fremd. Sie ist offensiv, wüst, auch wenn sie gerne das Wort „inkorrekt“ benutzt. So wie Julias Auftauchen und Verschwinden ist auch der Film: brüchig, heterogen in der Mischung aus Fotos („Julia“ entwickelte sich zunächst aus Fotografien, die Baier von Julia machte), lakonisch formulierten Texttafeln, Gesprächen, die mitunter abrupt abbrechen, und den schwankenden Bildern der Handkamera, die Julia schonungslos folgt bzw. die Julia schonungslos zulässt – etwa wenn sie sich auf einer Toilette Heroin spritzt oder einem tattrigen alten Mann im Auto einen Blow Job besorgt. Die wiederholten Abblenden des Films wirken selbst mitunter wie ein kurzes Wegdämmern. Die Regisseurin und Fotografin J. Jackie Baier sucht mit der Kamera immer wieder Julias Gesicht, ihren Blick, das Spiel mit Posen und Selbstinszenierung. Es geht ihr, die selbst transsexuell ist, nicht darum, anhand ihrer Protagonistin die Themen Transsexualität und Prostitution zu exemplifizieren. „Julia“ ist vielmehr das Porträt einer äußerst kompromisslosen und fraglos auch beschädigten Person, wie auch das Dokument einer Begegnung in all ihren Schattierungen: flüchtig, insistent, ikonisierend (der nächtliche Straßenstrich in Shutter Speed, Zoombewegungen auf Fotos), dann wieder eher distanziert nachfragend, dabei aber immer freundschaftlich. Baier beurteilt weder Julias brachialen Umgang mit ihrem sozialen Umfeld noch ihre Selbstzerstörung und -verwerfung. Vor allem Letzteres ist schmerzvoll anzusehen – etwa wenn Julia nach 12 Jahren erstmals wieder nach Litauen zurückkehrt und sich schämt, auf dem Friedhof vor das Grab ihres Großvaters zu treten. „Was habe ich denn geleistet in meinem Leben... Ich habe nur versagt.“ Eine Enkelin wie sie hätte er erschossen, fügt sie hinzu. Man atmet fast erleichtert auf, wenn sie, zurück in Berlin, davon erzählt, dass sie auf das Grab ihres Großvaters gepisst habe.
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