Oskar Roehler hat mit »Lulu & Jimi« und »Quellen des Lebens« den Anfang gemacht. Nun scheint sich der deutsche Film mehr als 30 Jahre nach Fassbinders Frauen-Trilogie »Die Ehe der Maria Braun«, »Lola« und »Die Sehnsucht der Veronika Voss« wieder für die Zeit zwischen dem Ende im »Führerbunker« und der antiautoritären Revolte von 1968 zu interessieren. Erst »Wolfskinder« , dann »Phoenix« und nun »Im Labyrinth des Schweigens« – drei unterschiedliche Filme, drei unterschiedliche Erzähl-Strategien und drei unterschiedliche Haltungen zur Geschichte.
Wie rekonstruiert man Geschichte aus der Ex-Post-Perspektive und hält dabei die eigene, gewählte Perspektive als »vorläufig« in der Schwebe? Giulio Ricciarelli hat sich in seinem Spielfilmdebüt dafür entschieden, im Rahmen von bekannten Genre-Konventionen des Polit-Thrillers vom Neubeginn, alten Seilschaften und wechselnden Bewusstseinszuständen und Lernprozessen zu erzählen. Im Mittelpunkt steht die Figur des jungen, ehrgeizigen und politisch etwas naiven Staatsanwalts Johann Radmann (Alexander Fehling), der 1958 eher zufällig mit der deutschen Geschichte konfrontiert wird. Ein Auschwitz-Überlebender hat in einem Gymnasiallehrer einen SS-Mann wiedererkannt, aber niemand scheint sich für diesen Skandal zu interessieren, sieht man einmal von dem linksliberalen Journalisten Gnielka ab, der die Sache publik machen will. Radmann beginnt sich für den Fall zu interessieren, eckt aber schnell bei seinen Vorgesetzten und Kollegen an und merkt, dass man sich in der westdeutschen Bevölkerung offenbar weitgehend darauf verständigt hat, die Verbrechen, die während der NS-Zeit begangen wurden, kollektiv zu beschweigen. Unterstützung finden Radmann und Gnielka lediglich bei dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der klarstellt, dass die meisten Verbrechen längst verjährt sind. Nur die Mordfälle noch nicht. Radmann wird von Bauer mit der Leitung der Ermittlungen betraut und beginnt mit Zeugenvernehmungen, die auch deshalb schwierig sind, weil Radmann selbst nicht so recht weiß, was in Auschwitz geschehen ist.
Es ist eine heikle Gratwanderung, die Ricciarelli unternimmt, um mit den Mitteln des Spannungskinos die Vorgeschichte der Frankfurter Auschwitzprozesse zu erzählen. Die Nebenfiguren stehen dabei für unterschiedliche und widersprüchliche Haltungen zwischen Verdrängen und Zukunftsorientierung innerhalb der Nachkriegsgesellschaft und dem sich abzeichnenden Wirtschaftswunder, während der Protagonist eine Entwicklung vom korrekten, aber naiven Staatsanwalt zum moralisch an der Grenze zur Hybris sich bewegenden Ermittler durchläuft, der sich schließlich schämt, Deutscher zu sein.
Vieles in »Im Labyrinth des Schweigens« folgt bis zu einem gewissen Punkt Genre-Konventionen, die man aus italienischen Mafia-Filmen oder US-Politthrillern der 1970er-Jahre wie etwa »Die Unbestechlichen« kennt – bloß, dass vom Verbrechen hier keine Lebensgefahr mehr auszugehen scheint, weil die Täter wie Fische im Täter-Volk schwimmen. Andere Szenen verweisen auf die westdeutsche Filmgeschichte der 1950er-Jahre, auf Filme wie »Rosen für den Staatsanwalt« oder »Der Mann, der sich verkaufte« – Alexander Fehling erinnert sogar stark an den jungen Hansjörg Felmy.
Unscharf bleibt die Figur des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, der als graue Eminenz die Fäden in der Hand hält, den nichts zu überraschen vermag und der hinter den Kulissen auch noch nach den dicken Fischen Eichmann und Mengele angelt. Bedenkt man, dass auch Petzolds »Phoenix« Fritz Bauer gewidmet ist, könnte man in »Phoenix« und »Im Labyrinth des Schweigens« auf reizvolle Art und Weise zwei höchst unterschiedliche, aber gleichermaßen reflektierte Formen des Erzählens konfrontieren und beide auf das visuell ambitioniertere und untergründig komplexere Spätwerk Fassbinders beziehen. Am Ende reicht die Aktenlage aus, um gegen zwei Dutzend Täter das Verfahren zu eröffnen und damit eine Lunte zu legen, die gleichermaßen zur Fernsehserie »Holocaust« wie nach Stammheim führt. Es wird sich zeigen, ob diese ehrenwerte Mischung aus Verdichten, Andeuten und Antizipieren aus der Ex-Post-Perspektive heute, ein halbes Jahrhundert später, noch Menschen ins Kino locken und dort Wirkung zeigen kann.