Shirley - Visionen der Realität

- | Österreich 2013 | 93 Minuten

Regie: Gustav Deutsch

Eine US-Schauspielerin erlebt von den 1930er- bis zu den 1960er-Jahren die sozialen Umbrüche ihres Landes von der Depression bis zu den Bürgerrechtsbewegungen. Als Ehefrau und Mutter sucht sie nach Wegen zwischen Anpassung und Emanzipation. Ihr wechselhafter „Bildungsroman“ wird in originalgetreu nachgestellten „lebenden Bildern“ nach 13 Gemälden des Malers Edward Hooper (1882-1967) erzählt. Dabei beißt sich die Einheitlichkeit der Hauptfigur mit dem weit gespannten Bogen der gesellschaftlich-politischen Reflexionen, die überwiegend als innerer Monolog vorgetragen werden. Das Experiment ist visuell bestechend, wirkt bisweilen aber wie das Werk eines überambitionierten Inszenators. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SHIRLEY - VISIONEN DER REALITÄT
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
KGP Kranzelbinder Gabriele Prod.
Regie
Gustav Deutsch
Buch
Gustav Deutsch
Kamera
Jerzy Palacz
Musik
Christian Fennesz · David Sylvian
Schnitt
Gustav Deutsch
Darsteller
Stephanie Cumming (Shirley) · Christoph Bach (Stephen) · Florentin Groll (Mr. Antrobus / Kinobesucher) · Elfriede Irrall (Mrs. Antrobus / Kinobesucher / erster Fahrgast) · Tom Hanslmaier (Portier)
Länge
93 Minuten
Kinostart
18.09.2014
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
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Diskussion
Im späten 18. Jahrhundert wurde das Gesellschaftsspiel des Tableau vivant erfunden, bei dem lebende Personen Gemälde nachstellten. Die Tradition lebt im Kino fort, wenn Disneys „Mary Poppins“ (fd 13 712) mit Gefolge in eine Straßenzeichnung hineinsprang. In einem von „Akira Kurosawas Träume(n)“ (fd 28 317) irrt ein Mann durch die Exponate einer Van-Gogh-Ausstellung, um dem Meister an der gemalten „Brücke von Langlois“ persönlich zu begegnen. Und natürlich werden berühmte Werke der Malereigeschichte immer dann lebendig, wenn das Kino die alten Meister bei der Arbeit zeigt, etwa Jan Vermeer in „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ (fd 36 674). In „Shirley – Visionen der Realität“ treibt Gustav Deutsch die Idee der lebenden Bilder noch weiter, indem er ausschließlich Tableau vivants zeigt. Der österreichische Experimental- und Dokumentarfilmer übertrug 13 Gemälde des amerikanischen Realisten Edward Hopper (1882-1967) auf die Filmleinwand. Auf diese Idee sind Regisseure wie Alfred Hitchcock, Martin Scorsese oder Terrence Malick zwar auch schon gekommen, aber ihre Referenzen beschränkten sich auf ikonische Sets oder einzelne Innenszenen mit Hopper-Touch. Einsame, aber stets etwas angespannt wirkende Figuren verharren bei Hopper oft in klaustrophobischen Räumen. Fensterblicke werden dem Betrachter selten gewährt; in den wenigen Ausnahmen laden die städtischen oder ländlichen Szenerien hinter der Scheibe allerdings wenig zum Flanieren ein. Dafür eröffnet Hoppers in sich versunkenes, in Gruppenbildern ausgesprochen kontaktunfreudiges Personal viel Raum für Projektionen. Deutsch nutzt diese Offenheit der Bilder und erzählt mit ihnen die Geschichte der fiktiven Amerikanerin Shirley. Hoppers Gemälde, für die meist seine Ehefrau Josephine Modell stand, werden zu Stationen eines Frauenschicksals zwischen Anpassung und Emanzipation. Shirley ist eine politisch links stehende Schauspielerin, die Hollywood verabscheut, offenbar Mitglied der anarcho-pazifistischen Gruppe „The Living Theatre“ ist und sich zeitweilig in bühnenfernen Jobs wie einer Platzanweiserin im Kino oder einer Sekretärin verdingen muss. So wechselhaft wie ihr Berufsleben ist auch ihr Verhältnis zu ihrem Partner Stephen, einem Fotojournalisten der New York Post. Von der Bindung an Stephen erfährt der Zuschauer fast ausschließlich über Shirleys innere Monologe. Zweimal erlebt man ein sich anschweigendes Paar in privaten Wohnungen, einmal sind Shirley und Stephen in die Rollen von Chef und Sachbearbeiterin geschlüpft. Shirleys unebener, schwer nachzuvollziehender „Entwicklungsroman“ wird flankiert von äußeren Geschehnissen wie der Depressionszeit, dem Zweiten Weltkrieg, der McCarthy-Ära und dem Erstarken der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Doch den politischen Entwicklungen und Kontinuitäten entspricht keine Kohärenz der Hauptfigur. Warum Deutsch trotz aller störenden logischen Brüche auf einer Zentralfigur beharrt, erschließt sich nicht. Hätte es ein wechselndes Ensemble in abgeschlossenen Episoden nicht auch getan? Der Filmemacher hätte seine untadeligen Hauptdarstellerin Stephanie Cumming ja durchaus mehrfach besetzen können. Auch fragt man sich, warum in Shirleys Monologen die geheimnisvolle Aura der – immerhin verblüffend originalgetreu umgesetzten – Bilder zerredet wird. Viele Sätze klingen nach Bildbetrachtungen aus dem Kunstseminar. So tritt Shirley ein einziges Mal ins Freie, um sich auf das Treppengeländer des Gemäldes „Sunlight on Brownstones“ (1956) zu setzen. „Obwohl ich die Umgebung so gut kannte“, hören wir Shirleys Stimme, „den Park, die Bäume, die Häuser, die Menschen: Irgendwie fühlte ich mich abgeschottet, als würde ich in ein Diorama im Naturhistorischen Museum schauen.“ Ähnlich geht es dem Zuschauer in vielen Szenen, wenn er nicht sogar den Eindruck hat, den Experimenten eines überehrgeizigen Inszenators ausgesetzt zu sein. Das Zitat ist übrigens nur ein Beispiel für die Inkonsequenz des Autors, der Shirley hier – ohne Notwendigkeit – retrospektiv aus der Zukunft sprechen statt wie sonst in der Gegenwart Monologe führen lässt. Deutsch will zu viel. Doch gerade mit überzogener Kunstanstrengung kann man den scheinbar schlichten Bildern Hoppers nicht beikommen. Die Jahre der zwischen 1928 und 1963 angesiedelten Szenen entsprechen den Entstehungsjahren der Bilder, alles andere ist frei dazuerfunden. Etwa die Fixierung jeder der 13 Szenen auf den 28. August des jeweiligen Jahres. Das Schlüsselbild des Films datiert Deutsch auf den 28. August 1963, als Shirley die Rede Martin Luther Kings mit dem berühmten Satz „I have a Dream“ im Radio hört. Weder die Frauenfigur noch das Kofferradio sind im Originalgemälde „Sun in an Empty Room“ (1963) zu sehen. Dass Deutsch in die nicht nur stark abstrahierten, sondern auch apolitischen Gemälde eine Figur mit gesellschaftskritischen Ansichten hineinpflanzt, rechtfertigt der Regisseur mit seinem Unbehagen an Hoppers persönlichem Weltbild: „Ich kann ihm sozusagen entgegenarbeiten. Edward Hopper war ein politisch sehr konservativ denkender Mensch, etwas, das ich gar nicht mit ihm teile. Das kann ich durch meine Protagonistin auch umkehren und in eine andere Richtung führen.“ Eine legitime Methode, deren Umsetzung mitunter aber sehr gezwungen wirkt. Denn wo sich der Verdacht erhärtet, dass Shirley als bloßes Sprachrohr ihres Schöpfers fungiert, würde sich die Intention des Regisseurs sogar in ihr Gegenteil verkehren. Dann hätten wir es weniger mit einer Frau zu tun, die sich zur Selbständigkeit und kritischem Denken durchringt, sondern mit einer Marionette in der Hand eines in sein Konzept verliebten Künstlers. So gesehen ist Hoppers gemaltes Personal deutlich besser dran: Ihre Gedanken sind wirklich frei, solange kein Interpret ans Bild tritt und Sprechblasen über die Köpfe kritzelt.
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