Fulminantes Drama um eine komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung, die durch die labile Persönlichkeit des Jungen auf eine extreme Probe gestellt wird.
In Rapper-Manier schleudert Steve die Arme im Takt der Beats nach unten, das Skateboard unter den Füßen, den strahlend blauen Himmel über dem Kopf. Den augenscheinlichen Hip-Hop-Song im Kopfhörer hört nur er, während für die Zuschauer die traurig-sanften Zeilen des Songs »Colorblind« der Counting Crows über den Bildern liegen: »I am covered in skin / No one gets to come in / Pull me out from inside / I am folded / I am, colorblind«.
Kurze Zeit später will Steve einem schwarzen Taxifahrer, »dem Nigger«, der ihn und seine Mutter nicht mehr weiter befördern will, »die Fresse einschlagen«. Das ist die Ton-Bild-Komposition, mit der Regisseur Xavier Dolan die Problemsituation von »Mommy« umreißt. Schon der Titel, die zärtliche Hinwendung eines Kindes zu seiner Mutter (Anne Dorval) deutet den Kontrast zu seinem Debütfilm »I Killed My Mother« (2009) an.
Purer Körperenergie, kaum Kopf
Der Sohn von »Mommy«, Steve, ist zu den feinen, über die Jahre gesponnenen Antipathien einer Hass-Liebe wie im Erstling überhaupt nicht fähig. Steve ist nicht Kopf, sondern Körper, pure Energie, unberechenbar, anstrengend und manchmal geradezu zerstörerisch. Weshalb ihn seine Mutter Diane zu Beginn aus einem Jugendheim abholen muss, weil er für die schweren Verbrennungen eines »Mitinsassen« verantwortlich ist. Keiner kann mit Steves affektiver Störung, die in einem Überschuss an Zuneigung oder Aggressivität mündet, umgehen. Diane eigentlich auch nicht, aber sie setzt auf einen Trumpf, den nur sie besitzt: auf eine Liebe, die bedingungs- und selbstlos ist, auch wenn sie auf Gewalt stößt.
Dianes Sprache, ihre Plateauschuhe und knallenge Jeans, auf der die Steinchen glitzern und die Haut durch die Schlitze blitzt, schreien Prekariat. Gleichzeitig ist sie aber schlagkräftiger und schneller im Kopf als die meisten ihrer Mitmenschen. Diane, die immer auf ihre Reize als Sexualobjekt spekulierte und diese zu verlieren beginnt, ist ein Opfer ihrer Mutterschaft. Eine Frau, die sich durchschlägt, aber nicht etablieren kann mit diesem Klotz von Sohn am Bein, den sie seit dem Tod des Vaters kaum noch gebändigt bekommt. Das wird deutlich, als sie sich Hilfe bei der neuen Nachbarin sucht, der Lehrerin Kyla, die ein »Sabbatjahr« unbestimmter Länge einlegt. Ob Kylas Stottern begann, als ihr kleiner Sohn starb, ist ungewiss. Dass sie das Stottern aber nahezu unterlässt, wenn sie von den Menschen entfernt ist, die sie an den großen Schmerz erinnern, ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter, macht der Film schnell deutlich.
1:1-Format statt Cinemascope
Diese bedrückenden Verhältnisse, die Enge im Kopf angesichts beengter Zukunftsaussichten spiegeln sich auch darin, wie sie die Inszenierung darstellt. Wo andere Regisseure die Raumwirkung des Breitbildformats suchen, erzählt Xavier Dolan im quadratischen Verhältnis 1:1. Das hat nicht nur Enge, sondern auch eine noch stärkere Konzentration auf die Figuren zur Folge, denen sich Dolan schon immer gerne an die Fersen beziehungsweise den im Bild zentrierten Nacken heftete.
Das 1:1-Bildformat bestimmt mittlerweile aber auch jedes Facebook-Profilfoto einer sich ständig selbstvergewissernden »Selfie«-Generation; auch Steve schießt irgendwann ein Selfie von sich, Diane und Kyla. Dabei haben Steve und der 25-jährige Xavier Dolan gar keine Selbstvergewisserung nötig. Mit »Sag nicht, wer du bist!« (2013) und »Mommy« scheint Dolan zu einer Konsistenz gefunden zu haben, die seine beiden vorherigen Filme mit ihren überkandidelten Versuchen, Popkultur einzufangen, nicht besaßen. Zu durchschaubar schien die Anbiederung an die Hipster-Kultur, während die Geschichten blass oder aufgeblasen ausfielen.
Auch »Mommy« gibt Dolans Ausstattungswut mit dem 1990er-Jahre-Anstrich Futter. Doch Tom (aus »Sag nicht, wer du bist!«) und Steve sind Figuren, die in ihrem Zorn und ihrer Drift ins Abseits eine Strahlkraft besitzen, neben der der Narzissmus der »Herzensbrecher« verblasst. Steve mit dem zu großen Herzen und der zu schwachen Impulskontrolle mag im Leben nicht viel erreichen. Im Kino aber ist er es, der die Macht hat, die Leinwand zu öffnen: Frontal inszeniert, zieht er mit seinen ausgestreckten Händen das Bild auf. Zweimal wird das 1:1-Format in Momenten größten Glücks in die »Norm« erweitert. Wieder verschmälert wird es vom Einbruch der Realität, einmal in Form eines Briefes und einmal am Ende einer Traumvision, mit der sich Diane eine unwirkliche Zukunft ausmalt.
Zwischen Melancholie & Selbstbespiegelung
Man ist versucht, auf diese Montagesequenz des Glücks hereinzufallen, genau wie auf die Musik, die in Erinnerung ruft, wie die späten 1990er-Jahre klangen. Dabei weiß Dolan genau, dass Songs wie »Colorblind«, »Blue« (von Eiffel 65) oder »Wonderwall« (von Oasis) längst totgespielt sind und nur durch seine Bilder wieder zum Leben erwachen. Nicht umsonst ist das Bildformat 1:1 auf jedem Cover des Leitmediums der 1990er-Jahre zu sehen, der CD. Das Lebensgefühl einer Generation im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends transportiert hingegen der Abspann mit der Stimme von Lana del Rey, irgendwo zwischen Melancholie, Retorte und medialer Selbstbespiegelung.