Tilmann Otto heißt "Gentleman", Alberto D’Ascola nennt sich "Alborosie". Beide sind internationale Reggae-Stars, die schon in ihrer Jugend den Rastafarismus als spirituelle Heimat entdeckten. In ihrem Schlepptau taucht der Dokumentarfilm tief in die jamaikanische Kultur und die widersprüchliche Wirklichkeit der Insel ein. Gespräche mit Musiker und Kulturwissenschaftlern zeichnen ein differenziertes Bild jenseits des Touristenidylls. Zugleich fragt der Film nach den Grenzen der Inkulturation und dem Verhältnis von Fremdheit und Freiheit, die das Experiment eines weißen Rastafari mit sich bringen. (O.m.d.U.)
- Ab 16.
Journey to Jah
Dokumentarfilm | Deutschland/Schweiz 2013 | 95 Minuten
Regie: Noël Dernesch
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Filmdaten
- Originaltitel
- JOURNEY TO JAH
- Produktionsland
- Deutschland/Schweiz
- Produktionsjahr
- 2013
- Produktionsfirma
- Port au Prince Film Kultur Prod./Pixiu Films
- Regie
- Noël Dernesch · Moritz Springer
- Buch
- Noël Dernesch · Moritz Springer
- Kamera
- Marcus Winterbauer
- Musik
- Beat Solèr
- Schnitt
- Michelle Barbin · Christoph Senn
- Länge
- 95 Minuten
- Kinostart
- 20.03.2014
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
„So there was a new breed of adventurers, urban adventurers who drifted out at night looking for action with a black man’s code to fit their facts. The hipster had absorbed the existentialist synapses of the Negro, and for practical purposes could be considered a white Negro.“ An diese Sätze aus Norman Mailers Aufsatz „The White Negro“ von 1957 muss man unwillkürlich denken, wenn man die Dokumentation „Journey to Jah“ von Noël Dernesch und Moritz Springer sieht. Wo Tilmann Otto, der Sohn eines Pastors aus Köln, in Kingston, Jamaika, von seinen Freunden und Gefährten empfangen wird und sofort einen Rap hinlegt, dessen Sprache auch deshalb authentisch erscheint, weil er von den Jamaikanern als solcher akzeptiert und gewürdigt wird. Gleiches geschieht später noch einmal, wenn Alberto D’Ascola, der Sohn eines Polizisten aus Sizilien, davon erzählt, wie er auf der Karibikinsel ein anderer wurde, weil er die Religion des Rastafarismus für sich entdeckte.
Otto und D’Ascola sind unter ihren Künstlernamen Gentleman und Alborosie international große Nummern in der Reggae-Szene, aber auch auf Jamaika anerkannt. Bereits als Jugendliche entdeckten die beiden Musiker, angelockt von Roots Reggae und Dancehall, im Rastafarismus eine spirituelle Heimat voller Widersprüche, haben sich dennoch aber auf ihre ganz persönliche Reise zu Gott begeben, von der der Filmtitel kündet. Obwohl „Journey to Jah“ voller Musik steckt, ist der Film weit mehr als eine werbetaugliche Musik-Dokumentation über die Abenteuer zweier Europäer in der Karibik. Denn obwohl Gentleman und Alborosie sich Sprache und Rhythmus des Reggae und Dancehall „draufgeschafft“ haben, bewegen sie sich noch immer in einer fremden Kultur, umgeben von Einheimischen, die einen anderen, vielleicht unverstellteren Blick auf den widersprüchlichen jamaikanischen Alltag haben.
Der Rastafarismus antwortet mit seinen nur scheinbar naiven Parolen von „One World, One Love“, seinem unvermittelten Dogmatismus, seiner Homophobie und seinen Diaspora-Konzepten auf eine komplexe, von Armut, Rassismus und Gewalt geprägte Realität. Man kann diese Widersprüche auf einfache Formeln herunterbrechen wie es Alborosie einmal tut, wenn er konstatiert: „God lives here, but Satan too!“ Und man kann auch den starken Zusammenhalt der Menschen und ihre Spiritualität schätzen, wie Gentleman es einmal tut. Aber durch die Hinzuziehung weiterer Stimmen von Musikern wie Terry Lynn, Damien Marley und Jack Radics oder der Kulturwissenschaftlerin Carolyn Cooper entwickelt der Film ein ungleich komplizierteres Bild der jamaikanischen Politik und Kultur, die das simple Klischee von der Party- und Kiffer-Kultur des Reggae ebenso aufbricht wie die spirituell-alttestamentliche Dimension des Preisens von Love, Peace and Unity: eine radikale Abkehr von Babylon (und dem Babylon in sich selbst) ist sicher leichter zu haben als ein Ticket für den Zug nach Zion.
Am Beispiel von Gentleman und Alborosie erzählt der Film von der aufwändigen Identitäts-Bricolage, die Europäer zu leisten haben, wenn sie einen Zugang zur Kultur des Rastafarismus finden wollen. Wieviel Fremdheit nimmt man dafür in Kauf – und welche Freiheit eröffnet gerade das Fremd-Sein? Die beiden Musiker, die hier ansatzweise porträtiert werden, haben unterschiedliche Antworten auf diese Fragen gefunden. Alborosie scheint sich radikaler und letztlich affirmativer auf das Andere eingelassen zu haben, während Gentleman irgendwann einmal hellsichtig und auf dann doch sehr deutsche Art und Weise die Schwierigkeiten transparent macht, wenn er sagt: „Das Paradies ist vielleicht kein Ort, sondern ein innerer Zustand“. Interessant und vielleicht auch aussagekräftig ist, dass die Arbeit an „Journey to Jah“ sieben Jahre in Anspruch genommen haben sollen. Dem fertigen Film sieht man dies nicht an.
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