Ein homosexueller Schriftsteller, der in Berlin lebt und seine Familie in der Schweiz längst hinter sich gelassen hat, sieht sich nach einem Sturz seiner alten Mutter gezwungen, sich um sie zu kümmern. Die Wiederbegegnung mit ihr und seiner Schwester setzt einen langsamen Prozess der Selbsterkenntnis in Gang. Ein betörend einfacher, dabei doch vielschichtiger filmischer „Familienroman“, der eine faszinierende Soghaftigkeit entwickelt. Dabei findet er das Allgemeingültige im Persönlichen und balanciert elegant zwischen Drama, Komödie und Romanze. (Teils O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 14.
Rosie (2013)
Drama | Schweiz 2013 | 106 Minuten
Regie: Marcel Gisler
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Filmdaten
- Originaltitel
- ROSIE
- Produktionsland
- Schweiz
- Produktionsjahr
- 2013
- Produktionsfirma
- Cobra Film
- Regie
- Marcel Gisler
- Buch
- Marcel Gisler · Rudolf Nadler
- Kamera
- Sophie Maintigneux
- Schnitt
- Bettina Böhler
- Darsteller
- Sibylle Brunner (Rosie) · Fabian Krüger (Lorenz Meran) · Sebastian Ledesma (Mario) · Judith Hofmann (Sophie Meran) · Hans Rudolf Twerenbold (Markus)
- Länge
- 106 Minuten
- Kinostart
- 08.05.2014
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
Heimkino
Diskussion
Lorenz lebt schon lange in Berlin, seine Familie in der Schweiz. Seine Schwester und seine Mutter hat er mehr oder weniger hinter sich gelassen. Er ist schwul und schreibt Romane, die das auch thematisieren; die Enge der Provinz wäre dafür eher hinderlich.
„Rosie“ von Marcel Gisler beginnt mit einem Sturz, der alles umwirft: mit Rosies Sturz. Die Mutter von Lorenz heißt Rosie, sie lebt in ihrer zugemüllten Wohnung, ist einsam, trinkt zu viel und kippt just in dem Moment um, als sie im Fernsehen ein Interview mit ihrem Sohn verfolgt. Der Sohn muss anreisen, trotz Lesereise, und auch die Tochter, trotz Eheproblemen.
Der in Berlin lebende Schweizer Regisseur Marcel Gisler hat 14 Jahre lang keinen Film gemacht; dafür ist „Rosie“ jetzt ein kleines, konzentriertes Meisterwerk. Drama, Komödie, Romanze, Familiengeschichte, Schauspielerfilm: „Rosie“ ist alles und trotzdem nie zu viel. Gisler und sein langjähriger Co-Autor Rudolf Nadler vermeiden Abziehbilder; selbst kleinsten Nebenfiguren geben sie ein individuelles Gesicht. Etwa den Provinzjournalisten, der Lorenz interviewt und auf die erwartbare Frage nach Lorenz’ Homosexualität eine ebenso kluge wie witzige Antwort bekommt. Oder den Ehemann von Lorenz’ Schwester, den Rosie furchtbar langweilig findet – aber vielleicht ist er das ja gar nicht?
„Überspitzt könnte man sagen, dass ‚Rosie‘ ein Porträt meiner Mutter ist“, hat Gisler verlauten lassen. Er sei der erste in der Familie gewesen, der aufs Gymnasium ging und als 21-jähriger dann nach Berlin. Sein Vater war Amateurboxer, wie Lorenz’ Vater im Film. Der ist zwar schon lange tot, spielt aber eine wichtige Rolle. Denn plötzlich rührt die resolute, raubeinige Mutter an ein sorgsam gewahrtes Familiengeheimnis, das, einmal auf dem Tisch, dem Film eine völlig neue Richtung gibt.
Die Kamera erzählt derweil eine eigene Geschichte. Schon in Gislers für lange Zeit „letztem“ Film „De Fögi isch en Souhund“ (1998) führte Sophie Maintigneux die Kamera. In „Rosie“ zeigt sie manchmal alles und manchmal etwas anderes als das, worum es vordergründig, also dramaturgisch oder im Dialog, eigentlich geht. In den Szenen, in denen die Kamera hinschaut, gelingt im Verbund mit den tollen Hauptdarstellern Sibylle Brunner und Fabian Krüger und der nuancierten Inszenierung ein Blick, der eben nicht plakativ voyeuristisch ist: Wenn Lorenz seine nach ihrem Unfall auf Pflege angewiesene Mutter in der Badewanne wäscht und sie dabei ihre sarkastischen Bemerkungen macht, dann liegt darin kein Sozialdrama und keine simple Botschaft. Ein Sohn wäscht seine alte Mutter, ihm kommt das komisch vor, ihr auch, also machen sie Witze. Dass es um Würde im Alter geht, transportiert sich ganz nebenbei. Im Wegschauen wird ebenso viel erzählt wie im Hinschauen. So schweift die Kamera über die Bewohner des Pflegeheimes und fasst auf diese Weise anschaulich Rosies Gefühle zusammen.
Um Rosie dreht sich zwar der Film, wie der Titel nahelegt. Der Blick des Zuschauers aber ist derjenige von Lorenz. Immer wieder fährt er von Berlin in die Schweiz. Die Autobahnfahrten markieren die einzelnen Erzählabschnitte, sie zeigen wie der Wechsel der Jahreszeiten an, wie viel Zeit vergangen ist.
Es ist aufregend, Lorenz’ Auseinandersetzung mit seiner Familie und seiner Familiengeschichte zu folgen; die langsame Selbsterkenntnis unter neuen Vorzeichen nachzuvollziehen. Vielleicht kann sich Lorenz sogar wieder verlieben, in jemanden, der noch nicht so verkorkst ist wie er. Obwohl oder gerade weil es sich um eine so spezifische Geschichte handelt, spricht der Regisseur und Autor ständig Universales an. „Rosie“ entwickelt die Soghaftigkeit eines Familienromans, die 106 Minuten, die der Film dauert, sind fast zu kurz.
Es wäre sehr zu hoffen, dass bis zu Marcel Gislers nächstem Film nicht wieder 14 Jahre vergehen.
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