Jane ist Ex-FBI-Agentin und arbeitet für ein privates Sicherheitsunternehmen globalen Zuschnitts. Sie ist jung, talentiert und von solidem, aber nicht gewissenlosem Ehrgeiz. Ihre Chefin vertraut ihr eine verantwortungsvolle Aufgabe an. Sie soll undercover eine Gruppe ausfindig machen und infiltrieren, die unter dem Namen „The East“ von sich reden macht: antikapitalistische, antikonsumistische Widerständler, vage links orientiert und keineswegs gewaltfrei. In ihren Botschaften drohen sie der Pharma- und Bauindustrie mit Anschlägen auf Sachen und Manager. Unter falscher Identität – sie nennt sich nun Sarah – wechselt Jane ins Tramper-Outfit, reist per Fahrrad und als blinde Passagierin in Güterzügen durch das Land und landet bald in einer Aussteiger-Kommune in den Wäldern um Pittsburgh, die sich als „The East“ entpuppt.
Der Film nimmt sich viel Zeit, diese Gruppe in ihren Facetten zu zeigen und die Individualität der einzelnen Mitglieder herauszuarbeiten. Die Inszenierung ist erkennbar darum bemüht, die Faszination von deren Bohème-Leben und ihren politischen Widerstand für die brave Bürgertochter Sarah/Jane zu ergründen. Der Film verklärt dabei nichts. Es scheint den Machern vielmehr um Fairness zu gehen. Zwar ist die Sympathie für die Armen deutlich zu spüren, für jene, die sich von den Abfällen der Supermärkte ernähren oder unter Brücken schlafen; auch für das verbreitete Lebensgefühl zwischen Paranoia und Weltuntergang oder für Menschen, die auf die Zerstörung der Lebensgrundlagen nicht mit Gleichgültigkeit reagieren. Doch streckenweise ähnelt das alles eher einer kühlen sozialpsychologischen Studie über Gruppendynamiken. Nuanciert und anspielungsreich geht es um die Mechanismen von Freundschaft und Zusammenhalt, um die Versuchungen durch Drogen und Sex wie überhaupt um die Attraktionen, die eine radikale Freiheit haben kann – die Absage an alle Konventionen des modernen Daseins, der antizivilisatorische Affekt eines Lebens nach eigenen Regeln, das notgedrungen zum Selbst-Experiment wird.
„The East“ aktualisiert die Hippiephilosophie und fragt nach deren heutigen Chancen und Gefahren. Das Spektrum reicht dabei gewissermaßen von John Lennon bis Charlie Manson; es geht auch um Gruppenterror, um moralische Exzesse und um die Selbstermächtigung einer kleinen Minderheit. Zugleich zeigt der Film, was geteilte Geheimnisse mit einer Gruppe machen; wie sie sie von innen auflösen. Das aus vielen Thrillern bekannte Motiv einer Undercover-Identität wird nicht allein an Sarah/Jane durchgespielt, deren Loyalität bald ins Wanken gerät, sondern an der ganzen Gruppe, die in konservativer Kleidung die Dinner-Partys der oberen Zehntausend besucht.
„The East“ ist insofern vor allem ein Film über schillernde moralische Identitäten. Als Jane steht Sarah für keinerlei Werte, sondern für die neutrale Prinzipienlosigkeit des Marktes. Es ist für das Verständnis des Films entscheidend, dass diese Heldin keine wie auch immer gezeichnete Gesetzesdienerin ist und auch nicht zwischen zwei Prinzipien steht, sondern zwischen dem postmodernen Abschied vom Prinzipiellen und dem klassisch-modernen Konzept des Handelns nach Prinzipien. Als Sarah sitzt Jane zwischen den Stühlen, ein Individuum, das zwischen zwei Weltentwürfen hin- und hergerissen ist.
„The East“ reiht sich damit in eine schon längere Reihe von neuen US-Filmen mit „revisionistischer“ Agenda ein. Er ähnelt auffällig stark Robert Redfords „The Company You Keep“. Auch dort geht es – allerdings in Form eines Rückblicks – um eine radikale linke politische Untergrundbewegung innerhalb der Vereinigten Staaten. Doch auch „World War Z“
(fd 41 768) mit seiner Staatskritik, Tarantinos „Django Unchained“
(fd 41 500) mit einem überraschend ungeschönten Blick auf die Sklavenwirtschaft oder Gore Verbinskis „Lone Ranger“, in dem das Böse in Form eines Bündnisses aus Gesetz, Mördern und dem militärisch-industriellen Komplex des Wilden Westens (Eisenbahn und US-Kavallerie) auftritt, fügen sich zum Gesamtbild einer erstaunlich expliziten und kompromisslosen Kritik an den politischen Mythen Amerikas.
Hauptdarstellerin Brit Marling schrieb auch das Drehbuch zu diesem hervorragenden Thriller, bei dem Zal Batmanglij Regie führte. Marling gehört zu den unkonventionellsten Film-Persönlichkeiten der letzten Jahre. Sie führt Regie und schreibt überdurchschnittliche Drehbücher. „The East“ ist ihr bisher anspruchsvollstes Werk. Der Weg ist in diesem Film viel interessanter als das Ziel; der klare Blick, mit dem „The East“ die Amoral der Wirtschaft ebenso freilegt wie den Moralismus der Widerständler, ist ergiebiger als das erwartbare Ende der Reise seiner Hauptfigur. Sarah kann und will nicht bei dieser Außenseiterbande bleiben. Aber in ihr früheres Leben kann sie auch nicht mehr zurück – Jane ist sie schon lange nicht mehr.