Dokumentarfilm | Deutschland 2013 | 117 (24 B./sec.)/112 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Dieter Reifarth

Die Villa "Tugendhat" in der tschechischen Stadt Brünn wurde 1929/30 in Brünn (Tschechien) nach Plänen des Architekten Ludwig Mies van der Rohe für das Unternehmer-Ehepaar Fritz und Grete Tugendhat errichtet. Heute gilt das architektonische Meisterwerk als eine Ikone des Bauhaus; nach seiner langwierigen Restaurierung zählt es zum Weltkulturerbe. In einem grandiosen Bogen verbindet der Dokumentarfilm Bilder der Architektur mit der wechselhaften Geschichte des Bauwerks und dem Schicksal der eloquenten Tugendhat-Kinder, die mit ihren Eltern vor den Nazis nach Venezuela flohen. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
strandfilm/Pandora Film
Regie
Dieter Reifarth
Buch
Dieter Reifarth
Kamera
Rainer Komers · Kurt Weber
Musik
Robin Hoffmann
Schnitt
Dieter Reifarth
Länge
117 (24 B.
sec.)
112 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
30.05.2013
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Die DVD und BD-Editionen bietet umfangreiches Bonusmaterial: Der Film „Die Restaurierung”(90 Min.) von Dieter Reifarth dokumentiertdie Arbeiten an Haus Tugendhat, das Ineinandergreifen der Gewerke zeigt, von traditionellem Handwerk und moderner Bautechnik. Peter Nestler spricht den Kommentar. „Architekturfotografie, Neues Bauen, Mies van der Rohe” (42 Min.) widmet sich der Darstellung der Villa in der Architekturfotografie, zeigt wie die Fotografie die Geschichte der Architektur beeinflusst hat und analysiert das Werk Mies van der Rohes. Die „Outtakes” beinhalten Interviews und Sequenzen, die aus dramaturgischen oder zeitlichen Gründen in der Kinofassung entfielen. Ebenfalls enthalten ist ein 48-seitiges informatives Booklet. Die Edition (DVD & BD) ist mit dem Silberling 2013 ausgezeichnet.

Verleih DVD
Pandora (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
Verleih Blu-ray
Pandora (16:9, 1.78:1, dts-HD engl./dt.)
DVD kaufen

Diskussion
Im Prolog gerät die architektonische Ikone der Moderne ins Gespräch mit sich selbst. Während die Kamera entlang der weißen Fassade gleitet, das Gartengrundstück am Hang ins Visier nimmt und die riesigen Rundglasflächen der versenkbaren Fensterfront begutachtet, erklingen aus dem Off bewundernde und auch weniger begeisterte Stimmen. Selten provozierte ein Privathaus ein derartig kontrastreiches Bewertungskonzert, wie es die Fertigstellung der Villa Tugendhat im tschechischen Brünn tat. Das inzwischen restaurierte und öffentlich zugängliche Meisterwerk, das heute zum Weltkulturerbe gehört, geht auf das Konto des Architekten Mies van der Rohe. 1928 beauftragte ihn das wohlhabende Ehepaar Grete und Fritz Tugendhat mit dem Bau, inklusive einer Klimaanlage und eigens entworfener Möbel. Sieben Jahre lang durfte die deutsch-jüdische Familie ihr Prachtstück genießen. Dann kamen die Nazis und zwangen die Tugendhats nach einem Zwischenstopp in der Schweiz ins Exil nach Venezuela. Der Dokumentarfilm von Dieter Reifarth erzählt die Geschichte des Hauses in einem grandiosen Bogen nach, untermalt mit wunderbar modernistischer Musik, die den Aufbruchsgeist der Weimarer Republik unterstreicht. Die noch lebenden Kinder berichten mit analytischen Scharfsinn von den Überlebensstrategien fern der gewohnten Umgebung, ihrer kuriose Blüten tragenden Vielsprachigkeit, der mit Alkoholismus bezahlten Überanpassung eines Bruders, oder den vergeblichen Versuchen der Eltern, nach der Rückkehr in die Schweiz ihren Besitz zurückzubekommen. Eine neue Heimat bot ihnen erst ein zweites Haus, das erneut mit gewagten Symmetrien auftrumpfte und die Nachbarn gegen sich aufbrachte. Die Tugendhats blieben fremd und für immer entwurzelt an einem Ort, der ihre Andersartigkeit nicht vertrug. Unzählige großartige Filmaufnahmen aus der Kindheit der mitteilungsfreudigen Geschwister entführen in Rückblenden in eine Zeit, in der progressive Familien wie die ihre die deutsche Kultur einem Modernisierungsschub unterzogen und vielen verpönten Avantgarde-Vertretern überhaupt erst die finanzielle Grundlage für ihre Experimente boten. Während viele ihrer nächsten Angehörigen nach Kriegsbeginn im Holocaust umkamen, feierte die Gestapo in der Villa ausschweifende Partys. Die Rote Armee eiferte ihrem Vandalismus mit einem Pferdestall nach. Die Kommunisten entfremdeten die Räume immerhin als Kur-Einrichtung für Kinder mit Rückenerkrankungen. Einige von ihnen erinnern sich immer noch zu Tränen gerührt an den positiven Schock, den die weitläufige Architektur in ihnen auslöste. Nach Jahren des Verfalls nahmen sich Politiker im Zuge des Systemwechsels des einzigen repräsentativen Objekts in der Stadt an. Fernsehaufnahmen von 1993 verweisen auf hier abgehaltene Verhandlungen, die in der staatlichen Trennung zwischen Tschechen und Slowaken mündeten. Ein tumbes Hausmeisterpaar zog ein und nahm Veränderungen vor, um die „kalten“ und „ungemütlichen“ Räume wohnlicher zu gestalten. Zwischendurch degradierten Teams einer Seifenoper das Interieur zur mondänen Kulisse eines Mafia-Bosses. Ein Drama unseliger Vermarktung, das nicht mit grotesken Kapriolen geizt, zumal zeitgleich die noch lebenden Erben bis in die Generation der Enkel ihre Ansprüche aufrecht erhielten und mit juristischen Spitzfindigkeiten hingehalten wurden. Ein einziges Mal droht eine der Schwestern die Fassung zu verlieren, als sie über den Anwalt spricht, der den Fall zuerst mit vorgeheuchelter Empörung vor der Stadt vertrat, um nach der Entscheidung der Nachkommen, einen Verzicht vorzuziehen, seine Auftraggeber auf ausgebliebene Honorare zu verklagen. Bis auf die Restauratoren erscheint keiner der vermeintlich am historischen Wert des Jahrhundertbauwerks interessierten Einheimischen im guten Licht. Schamlos ergötzt man sich vor der Kamera an der unverdient eingeheimsten Attraktion und ignoriert das Schicksal der vertriebenen Erbauer. Umso genugtuender stimmen die neuesten Aufnahmen von der Wiederbelebung des Mythos im Sommer 2012. Zufrieden schreiten die ergrauten Schwestern durch ihr einstiges Zuhause, in sichtbarer Anerkennung der Mühen, die einstige Aura so authentisch wie möglich einzufangen. Eine bewegende Rückkehr, die lange nachhallt.
Kommentar verfassen

Kommentieren