Dieses Gesicht ist fast schon ein „Film im Film“: Es erzählt die innere Geschichte, während wir der äußeren folgen, den Szenen aus dem Leben der Titelfigur. Die Fältchen um Glorias Augen sehen danach aus, als würde sie gerne und oft lachen – und tatsächlich tut sie das auch immer wieder. Als Rudolfo, ein etwas älterer Mann, sie zum ersten Mal anspricht, fragt er sie, ob sie immer so glücklich sei. Die Mittfünfzigerin verneint. Auch das sieht man ihr an: Ihre Augen sehen hinter den großen Brillengläsern zwar freundlich in die Welt, aber auch mit einer gewissen Zurückhaltung. Sie zögert manchmal, bevor sie etwas tut, etwa Rudolfo antworten. Und wenn sie nicht lächelt, dann sehen ihre Lider und ihr Mund ein bisschen müde aus. Dabei tut Gloria durchaus, was sie kann, um dem Glück auf die Sprünge zu helfen. In der ersten Szene nähert sich die Kamera ihr über die Köpfe einer Menschenmenge, die zu Disco-Musik tanzt. Gloria steht an der Bar, dann mischt sie sich unters Volk und spricht einen Mann an, einen alten Bekannten, der sich zuerst nicht an sie erinnert. Später tanzen sie miteinander.
Gloria geht öfters in diese Tanzbar und hat keine Scheu, Kontakt zu suchen. Wenn sie in ihrem Auto durch die Stadt kurvt, singt sie inbrünstig die Lieder aus dem Radio mit: „Ich fühle mich frei, frei, frei“, heißt es da einmal. Das passt ganz gut zu ihr: Gloria ist eine unabhängige Frau. Sie ist seit über zehn Jahren geschieden; die Kinder sind längst erwachsen und selbstständig; sie arbeitet, irgendein Bürojob, ist mobil und bestens in Form. Doch genau diese Unabhängigkeit scheint Gloria auch unbehaglich zu sein. In Szenen, in denen sie ihrer Tochter und ihrem Sohn auf den Anrufbeantworter spricht und sie später besucht – den Sohn zu Hause mit seinem Baby, die Tochter bei ihrem Yoga-Kurs –, huscht manchmal eine Traurigkeit über ihr Gesicht: Im Leben ihrer Kinder ist sie nur ein Gast; wirklich gebraucht wird sie nicht. Von niemandem.
Der chilenische Regisseur Sebastián Lelio wollte in „Gloria“ die Frauen aus der Generation seiner Mutter porträtieren: Frauen um die 60, „für die niemand sonderlich viel Zeit zu haben scheint und die trotz all der Jahre, die sie schon hinter sich gebracht haben, immer noch nicht zu resignieren bereit sind“. Er macht eine Figur, die im Leben aller anderen nur eine Nebenrolle spielt, zur Hauptfigur. Und er schildert Glorias Versuch, auch für einen ihrer Mitspieler zur „Hauptfigur“ zu werden: Nach Glorias erstem Flirt mit Rudolfo, einem ebenfalls geschiedenen Mann und Ex-Marine-Offizier, kommt es zu weiteren Treffen. Beide haben Sex; in einem Restaurant macht Rudolfo ihr eine bezaubernde Liebeserklärung; später liest er ihr romantische Gedichte vor. Endlich scheint Gloria jemanden gefunden zu haben, für den sie das Wichtigste sein kann. Umso schmerzhafter sind die Reibungspunkte, als Gloria merkt, dass Rudolfo dazu doch nicht bereit ist: Seine Ex-Frau und die erwachsenen Töchter sind nicht nur finanziell von ihm abhängig, sondern fordern auch mit Nachdruck seine Aufmerksamkeit. Dem kann sich Rudolfo nicht entziehen.
Lelio hat seinen Film der Hauptdarstellerin Paulina García „auf den Leib geschneidert“; für ihren Auftritt wurde sie bei der „Berlinale“ 2013 mit dem „Silbernen Bären“ geehrt. Tatsächlich ist der Film ganz auf sie und ihr Erleben fokussiert. Immer wieder geht die Kamera nah an Garcías wunderbares Gesicht, um ihre subtilen Reaktionen einzufangen. Ihre vielen verschiedenen Begegnungen – in dem Mietshaus, in dem sie wohnt, bei ihren Kindern, bei Freunden, die sie besucht – koppeln ihre kleine Welt immer wieder zurück an den größeren Kontext der chilenischen Gesellschaft, an ein Klima, in dem die Sehnsucht nach Veränderung nicht nur Glorias Privatangelegenheit ist. Dabei wirken die Szenen nie zwanghaft mit Bedeutung aufgeladen, sondern reihen sich zu einem erfrischend tiefgründigen „Lebensfluss“, zusätzlich getragen von der Musik: von Schlagern, Disco-Hits und Bossa Nova-Klängen, in denen Gloria immer wieder einen Spiegel und ein Ventil für ihre Gefühle findet.