Welch ein Einstieg, mit dem man in diese Verfilmung des Romanklassikers gezogen wird: Ein Theater-Vorhang öffnet sich, und man befindet sich mitten in einer Inszenierung, die sich in Plansequenzen traumartig von den Brettern der Bühne hinter die Kulissen, dann in den Oberhimmel mit seinen Seilkonstruktionen und wieder zurück in den Besucherraum schwingt. Türen werden geöffnet, neue Räume betreten, und plötzlich steht man mit den Figuren in der Natur oder zwischen völlig anderen Gemäuern. Die Naturgesetze haben Regisseur Joe Wright und Theater-Drehbuchautor Tom Stoppard mit diesem magischen Erzähl-Rhythmus ähnlich außer Kraft gesetzt wie Raúl Ruiz in seiner Proust-Verfilmung „Die wiedergefundene Zeit“
(fd 34 680) – ein hintergründiges Gesellschaftsporträt zeichnen beide Filme. Die Vertreter der feinen Gesellschaft verharren im Stillstand, während die Hauptfiguren wie im Traum durch sie hindurchtanzen oder wie im Albtraum kurz vor dem mentalen Absturz durch sie hindurchstolpern.
Es ist eine experimentelle, aufregende Annäherung an Tolstois Roman, die neben der packenden Gefühlsachterbahn um Annas außereheliche Leidenschaft ganz eigene Assoziationen zu wecken vermag. Dabei entfernt sich der Film immer schneller und immer weiter von seinen artifiziellen Vorgaben, um eine ganz eigene Kraft zu entwickeln. Musical-artig synchronisierte „Stempel-Einlagen“ als Bürokratie-Persiflage oder die Verwandlung einer winterlichen Zugfahrt der Mutter zum Miniatur-Zug des spielenden Sohns weichen wunderschönen Aufnahmen russischer Weizenfelder, die in ihrer Weite und sphärischen Sonnen-Ausleuchtung an Bilder US-amerikanischer Western erinnern. Das ist das Setting, in dem sich die voneinander getrennten Schicksale der Ehebrecherin Anna Karenina und des sensiblen, nach Liebe hungernden Großgrundbesitzers Levin abspielen. Virtuos wird man zum Theaterbesucher und somit zum Teil der russischen Adelsgesellschaft des späten 19. Jahrhunderts gemacht: Hier wird demonstriert, dass man im Leben nicht nur die ganze Zeit schauspielert, sondern selbst immer Beteiligter, Meinungsbilder und Voyeur der Ereignisse um einen herum ist. So oft wird Anna, die untreue Ehefrau des steifen, aber geduldigen Regierungsbeamten Alexej Karenin, mit schockierten, verachtungsvollen Blicken der Frauen abgestraft, dass man automatisch zum moralisch urteilenden Subjekt herangezogen wird.
Leo Tolstois erster Satz über die glücklichen Familien, die sich alle gleichen, und die unglücklichen, die jede auf ihre eigene Weise unglücklich sind, hängt über dem Film wie die Kulissen im „Theaterhimmel“. Treffend beschreibt dieser Satz die gesamte Tragik des Schicksals seiner weiblichen Hauptfigur, deren Unglück wiederum dem ihrer literarischen Leidensgenossinnen gleicht. „Effi Briest“, „Madame Bovary“ und Anna Karenina aus St. Petersburg – sie alle begehen einen Fehler: Sie verlieben sich. Jung verheiratet, brechen sie mit ihren Affären aus einem unsichtbaren Korsett aus, das ihnen die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts angelegt hat. Kleine Flirts und heimliche Affären sind geduldet; eine Scheidung jedoch, ein tatsächlicher Ausbruch aus dem Status quo, das bestrafen die Mitglieder der Standesgesellschaft, die sich selbst ihrem Schicksal der Vernunftehe unterwerfen müssen, mit Schande, dem drohenden Verlust der Kinder als Druckmittel und letztlich dem gesellschaftlichen Fall der Ehebrecherinnen. Die Männer hingegen, die den Frauen den Weg aus der ehelichen Tristesse zu weisen scheinen, sind selbst entweder zu unstet bezüglich ihrer Gefühle oder zu sehr im eigenen Korsett gefangen, um Befreier zu sein. Fantastisch agiert die unheilsame Menage à trois aus Jungschauspieler Aaron Taylor-Johnson, Jude Law als fast kahler, gehörnter Ehemann und Keira Knightley, die Wright erneut so schön und leidend ins Bild setzt wie in ihren früheren gemeinsamen Filmen „Stolz und Vorurteil“
(fd 37 279) und „Abbitte“
(fd 38 431). Law beweist Mut in dieser gegen den Strich besetzten Rolle als gealterter und duldsamer „Gutmensch“ Karenin, kannte man ihn doch sonst eher in der Rolle des unwiderstehlichen Verführers.
Diese Verfilmung von „Anna Karenina“ erzählt nicht nur an der Vorlage entlang vom Schicksal einer Frau (Anna) auf dem gesellschaftlichen Abstiegskurs und von einem Mann (Levin), der den Sinn des Lebens finden wird und seine große Liebe behalten darf. Nein, diese Adaption ist selbst ein eigenständiges Kunstwerk, das trotz seiner mutig modernen, mit klassischen Elementen angereicherten Inszenierung Tolstois Werk gerecht wird. Es ist eine wahre Meisterleistung, wie hier ein Medium die Kraft eines anderen aufnimmt und dessen alte Geschichte in zeitlos großartige Bilderreigen übersetzt. Diese greifen tief und lassen mitleiden – ganz egal, wie oft man die Geschichte von Anna Karenina bereits rezipiert hat.