Ein junger Mann kauert am Bildrand auf einer hölzernen Wohnungstreppe, freundlich, aber zurückhaltend und scheu, fast unbeteiligt. Immer wieder unterbricht er seine Erzählung, schweigt, versucht es erneut, zögert lange, bittet um eine Pause; einmal muss er ganz abbrechen, weil ihn die Erinnerung überwältigt. Denn die Geschichte, die der Koreaner erzählt, ist zu ungeheuerlich. Shin Dong-hyuk wurde am 19.11.1983 in Nordkorea geboren – in Camp 14, als Sohn zweier politischer Gefangener, die sich vorher nicht kannten und zur Heirat gezwungen wurden. Camp 14 ist kein Arbeitslager im üblichen Sinn. Es ist ein Todeslager; dass die Gefangenen es lebend verlassen, ist nicht vorgesehen. 500 Quadratkilometer groß, 40.000 Häftlinge, die in Kohleminen und Zementfabriken schuften müssen. Jahrein, jahraus gibt es dasselbe zu essen, eine Schüssel mit Mais, ein wenig Kohl. Shin lernt nur Entbehrung, Hunger, Misstrauen und Gewalt kennen. Seine erste Erinnerung ist eine öffentliche Hinrichtung. Ein Menschenleben gilt nicht viel, schon kleinste Vergehen werden mit dem Tod bestraft. Jeder Häftling wird unter Strafandrohung genötigt, andere, sogar die eigene Familie, auszuspionieren. Als Shin 14 Jahre alt ist, berichtet er pflichtbewusst einem Schullehrer von den Fluchtplänen seiner Mutter und seines Bruders. Doch der Lehrer erzählt seinen Vorgesetzten nur die halbe Wahrheit; Shin wird in ein Verlies gesperrt, grausam gefoltert und verstümmelt, über offenem Feuer aufgehängt. Als er nach sieben Monaten aus diesem Martyrium entlassen wird, muss er zu mit ansehen, wie seine Mutter und sein Bruder öffentlich erschossen werden. Schuldgefühle oder Trauer zu empfinden, hat der Junge nie gelernt.
2005 gelingt Shin durch die Flucht. Über China erreicht er Südkorea, wo er heute lebt. Marc Wiese erfuhr von seinem Schicksal aus einem „Washington Post“-Artikel von Blaine Herden, der mittlerweile auch als Buch mit dem Titel „Flucht aus Lager 14“ erschien. Es gelang Wiese, das Vertrauen des Koreaners zu gewinnen und sich rücksichtsvoll auf dessen Bedingungen einzulassen. Shins Schwierigkeiten, sich seiner Erinnerung zu stellen, werden stets deutlich; die Treppe dient ihm auch als Fluchtpunkt, über die er jederzeit verschwinden kann. Aus dem Camp gibt es keine Bilder; Nordkorea leugnet die Existenz derartiger Todeslager. Wiese hat Shins Worte mit schlichten, grauen Zeichnungen des Iraners Alireza Darvish unterlegt. Sie geben eine genaue Vorstellung davon, wie es im Lager zugegangen sein muss, und erhöhen die Beklemmung, die einen angesichts der Unmenschlichkeit nicht mehr loslässt. Darüber hinaus machte Wiese zwei weitere Gesprächspartner ausfindig: den Chef eines anderen Camps und einen ehemaligen Offizier der Geheimpolizei. Sie sind nach Südkorea geflohen und erzählen kalt und gefühllos, in Anzug und Krawatte, wie sie folterten, vergewaltigten und töteten. Zwei Vertreter eines unmenschlichen Regimes, deren größte Sorge es ist, nach einer Vereinigung Koreas ihren Opfern wieder zu begegnen. Wiese hat Shin Dong-hyuk auch zu Vortragsreisen in aller Welt begleitet und zeigt seine Arbeit bei einer Menschenrechtsorganisation in Seattle. Ohne Lampenfieber erzählt er dort von dem, was sich eigentlich nicht in Worte fassen lässt. Doch dieses Aufarbeiten, dieses Reden über sein Leiden hat Shin nicht geholfen. Er hat in Camp 14 keine Empathie, keine Liebe, kein Mitleid erfahren. Bis heute plagen ihn Albträume; die Dämonen aus dem Lager lassen sich nicht abschütteln. Shin wird wohl nie ein Leben wie andere führen; das ist die erschreckendste Erkenntnis des Films. „Ich vermisse mein unschuldiges Herz“, sagt er; sein Schicksal wird stellvertretend für 200.000 andere Gefangene in Nordkorea zur Anklage einer menschenverachtenden Diktatur.